Oft namenloses Leid für die Aborigines im Outback.

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Wilcannia – ein Punkt im Nirgendwo des australischen Outback: Die kleine Ortschaft 945 Kilometer westlich von Sydney, 200 Kilometer vor Broken Hill gilt unter Reisenden als derart unsicher, dass viele hier nicht einmal anhalten. Zu 70 Prozent von Aborigines bewohnt, leidet Wilcannia unter einer hohen Kriminalitätsrate. Einbrüche, Diebstähle, Drogen, häusliche Gewalt. Die Schaufenster der wenigen Geschäfte sind vergittert.

Jahrzehntelange Vernachlässigung durch Staat und Behörden haben Wilcannia zu einem Symbol jenes Schicksals werden lassen, das viele Angehörige der indigenen Bevölkerung Australiens teilen: Armut und Hoffnungslosigkeit in weitgehender Isolation.

Diese Alltagssituation wird wegen Corona noch schwieriger: Das Virus droht sich in einigen abgelegenen, mehrheitlich von Aborigines bewohnten Orten wie Walgett und Burke auszubreiten. Auch in Wilcannia wurde der erste Fall identifiziert.

Was im Vergleich zur Situation in den Städten nach einem nur kleinen Problem aussieht – Sydney meldet dieser Tage hunderte Ansteckungen –, könnte aber der Anfang einer Katastrophe im australischen Outback sein, fürchten Epidemiologen.

Mangelhafte Versorgung

Denn eine hohe Infektionsrate hätte verheerende Folgen für die gesundheitlich ohnehin schon stark gefährdete Gruppe der indigenen Bevölkerung. Die bis zu 800.000 Aborigines und Bewohner der Torres-Meeresstraße sterben im Durchschnitt über zehn Jahre früher als andere Australierinnen und Australier. Der Mangel an medizinischer Versorgung und gesunder Ernährung – in Kombination mit Gewalt, Verwahrlosung und ungenügenden, oftmals überfüllten Unterkünften – führt dazu, dass Diabetes, Grippe, Nierenkrankheiten und Blindheit in einigen abgelegenen Aborigines-Gemeinden endemisch sind. Die Rate rheumatischer Herzerkrankungen unter Aborigines gilt als die höchste der Welt.

Die Behörden haben inzwischen die Armee aufgeboten, um die Ausbreitung des Virus in Orten wie Wilcannia zu stoppen; mobile Einsatzgruppen versorgen gefährdete Gemeinden und impfen die Leute.

Zwar sind indigene Australier schon vor Monaten als "klar definierte gefährdete Gruppe" identifiziert worden, die bevorzugt Zugang zu Covid-19-Impfungen haben sollte. Doch die Hoffnung von Experten, dadurch die Gefahr für Aborigines reduzieren zu können, hat sich bis heute nicht erfüllt.

Niedrige Impfrate

Erst etwa 30 Prozent der indigenen Australier haben die erste von zwei Injektionen erhalten, während es beim Rest der Bevölkerung über 50 Prozent sind. Und während die Zahl der vollimmunisierten Australier zuletzt bei etwa 30 Prozent lag, haben erst etwa zehn Prozent der Aborigines beide Spritzen erhalten.

Laut der indigenen Gesundheitsforscherin Kalinda Griffiths von der University of New South Wales hat die unklare Kommunikation der Regierung im Zusammenhang mit der Skepsis gegenüber dem Impfstoff von Astra Zeneca zur Angst vor der Nadel beigetragen. Zudem hat es die Regierung versäumt, genügend andere Impfstoffe einzukaufen. Und so sah sich Premierminister Scott Morrison gar gezwungen, jüngst ein Angebot Polens anzunehmen und Warschau 539.000 Dosen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer abzukaufen.

Aber auch religiöse Gründe hätten zur Impfverweigerung unter Aborigines geführt, so die Akademikerin Griffiths: "Wir wissen, dass einige Kirchengruppen die Menschen dazu aufgerufen haben, sich nicht impfen zu lassen. Die Kirche hat einen sehr starken Einfluss auf die Menschen in abgelegenen Gegenden – und das hat zu einer Menge Verwirrung geführt."

Große Familiengruppen

Epidemiologen sind sich unschlüssig, ob die Ausbreitung des Virus in abgelegenen Aborigines-Gemeinden noch gebremst werden kann. Denn kulturelle Gewohnheiten spielten dem Virus in die Hand, so eine Beobachterin: Indigene Australier lebten traditionell in großen Familiengruppen und seien sehr mobil. "In jedem Haus gibt es eine Matratze für den Cousin oder die Tante, die unverhofft zu Besuch kommt", so eine Expertin.

Auch in Wilcannia waren zuletzt alle Gästebetten belegt. Denn obwohl der Bundesstaat New South Wales im Lockdown ist, trafen sich bis zu 500 indigene Menschen für eine Beerdigung. Die Besucher seien oftmals über Hunderte von Kilometern angereist, so ein Sprecher der Polizei. Die Trauerfeier könnte ein Superspreader-Event gewesen sein – ein Treffen also, von dem potenziell hunderte neue Ansteckungen ausgehen könnten. Doch das wird sich erst in den kommenden Tagen und Wochen zeigen. (Urs Wälterlin aus Canberra, 28.8.2021)