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"Es gibt keine harte Grenze. Inflation wird zum Problem, wenn sie ein sich selbst verstärkender Prozess wird." Ökonom Philipp Heimberger

Foto: AP / Michael Probst

Für viele Sparer ist die Welt in den vergangenen Wochen endgültig aus den Fugen geraten. Seit längerem gibt es für das Geld auf dem Konto schon keine Zinsen mehr, daran sind alle gewöhnt. Selbst wer vor ein paar Jahren ein paar Tausend Euro zur Seite legte, hat heute nur einige Euro mehr auf der Bank.

Die Erklärung dafür war bisher einleuchtend: Es gab keine Inflation. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat daher ihre Zinsen auf null gesenkt, um die Inflation auf ihren Zielwert von nahe zwei Prozent zu bringen. Die Banken konnten sich daher zum Nulltarif Kredite bei der EZB holen. Nichts anderes bedeutet der Leitzins. Somit brauchen die Kreditinstitute aber die Spareinlagen ihrer Kunden nicht mehr. Daher gibt es für sie keine Zinsen.

Doch in den vergangenen Wochen hat sich etwas verändert. Die Inflation ist wieder da. Die Verbraucherpreise sind in Österreich im Juli im Vergleich zum Vorjahr um 2,9 Prozent gestiegen, im Juni war der Wert ähnlich hoch. Das ist kein Einzelfall. In den meisten Industriestaaten ziehen die Preise so kräftig an wie seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr. In den USA liegt die Inflationsrate bei 5,4 Prozent, in Deutschland bei 3,8 Prozent, das ist der höchste Wert seit den 90er-Jahren.

Fehlannahme

Warum tun die Zentralbanken nicht etwas und heben die Zinsen an? Müssen wir uns Sorgen machen? Tatsächlich spricht viel dafür, ein wachsames Auge auf die Entwicklung zu haben. Aber ebenso gut sind die Argumente, wonach es keinen Grund zur Furcht vor einem nachhaltigen Preisanstieg gibt und es sogar ganz gut ist, dass sich die Zentralbanker nicht nervös machen lassen.

Illustration: Fatih Aydogdu

Zunächst liegt vielen Warnungen wegen der Teuerung eine Fehlannahme zugrunde: Dass die Inflation derzeit höher liegt, das ist die erste wichtige Botschaft, ist im Grunde eine gute Nachricht. Als Folge der Pandemie ist im vergangenen Jahr die Nachfrage überall zurückgegangen. Unternehmen haben weniger Rohstoffe gebraucht, weil sie ihre Waren nur eingeschränkt verkaufen konnten.

Menschen haben seltener Restaurants besucht, weniger Kleider eingekauft. Weil die Geschäfte geschlossen waren, aber auch weil Millionen ihre Jobs verloren, wurde weniger konsumiert. Die Folge war, dass Preise vor allem für Rohstoffe, aber auch für Dienstleistungen und Waren weniger stark stiegen oder wie im Fall von Erdöl sogar stark zurückgingen.

Steigender Konsum

In den vergangenen Monaten ist der Konsum dann weltweit in Schwung gekommen. Die Nachfrage nach Öl, Holz, Stahl steigt, Restaurants sind wieder gut besucht. Die Menschen geben Geld aus. Das treibt die Preise.

Dazu kommen Lieferengpässe. Weil Autobauer Mikrochips-Lieferungen auf dem Höhepunkt der Krise 2020 stornierten, fehlen diese Produkte nun in Europa, den USA aber auch Japan. Somit laufen weniger Autos vom Fließband. Menschen kaufen mehr Gebrauchtwagen, die werden damit teurer.

Die Notenbanken argumentieren jedoch, dass viele dieser Effekte vorübergehend sein werden: Die EZB schätzt, dass die Inflation in der Eurozone schon 2022 wieder unter dem Zielwert der Zentralbank liegen wird. Aber wie kommen die Banker darauf?

Das Argument lässt sich an einem Beispiel erklären: Großer Preistreiber in Österreich ist der Verkehrssektor. Dazu gehören Ausgaben für Sprit, Autoreparaturen oder Neuwagen.

Kosten für Mobilität

Um 8,1 Prozent sind laut Statistik Austria die Kosten für Mobilität in den vergangenen zwölf Monaten gestiegen. In den ersten Monaten der Pandemie war das anders, da sind die Kosten gefallen. Schaut man durch die Corona-Krise hindurch und vergleicht die Preise von 2019 mit jenen heute, ist die Entwicklung nicht mehr so dramatisch, dann liegt der Preisanstieg bei Verkehr nur bei 5,4 Prozent.

Auch andere solche Einmaleffekte wirken sich aus. In Deutschland wurde die Umsatzsteuer in der zweiten Jahreshälfte 2020 vorübergehend gesenkt. Inzwischen sind die Preise aber wieder gestiegen, was sich in der Statistik gerade jetzt niederschlägt, wenn die Inflation zum Vorjahr gemessen wird.

Natürlich führen die Notenbanker auch Argumente an, über die sich streiten lässt. So geht die EZB davon aus, dass die Lieferengpässe zügig behoben sein werden. Die Chancen dafür stehen prinzipiell gut: Aktuell werden hunderte Milliarden Dollar zusätzlich in die Mikrochipproduktion investiert. Chiphersteller wie Samsung, Intel und Taiwan Semiconductor Manufacturing Company bauen aus. Auf den Mangel an Waren hatte der Kapitalismus immer schon eine effektive Antwort.

Aber gibt es wirklich schon 2022 keine Engpässe mehr? Sicher ist das nicht.

Preise steigen, aber noch nicht lang

Die Zentralbanken haben dafür ein anderes Argument auf ihrer Seite. Sie verfolgen die Inflationsziele mittelfristig, auf "mittlere Sicht", wie es bei der EZB heißt. Welchen Zeitraum das umfasst, ist nicht exakt definiert. Dennoch lassen sich Grenzen abstecken. Bloß weil die Preise einige Monate lang anziehen, bedeutet das nicht, dass die EZB handeln muss.

Die Zentralbanker in Frankfurt sind im Gegenteil der Ansicht, dass man durch kurzfristige Entwicklungen "hindurchsehen" muss. Denn wenn nun Zinsen zu früh angehoben werden, verursacht das auch Kosten. Höhere Zinsen bedeuten, dass Unternehmer schwerer an Kredite kommen, weniger investieren. Das dämpft das Wachstum und schafft mehr Arbeitslose und die Inflation sinkt unter den angestrebten Wert.

Die Inflation wird also von Einmaleffekten nach der Pandemie getrieben, einem Stottern der Lieferketten, einem Nachfrageboom nach den vielen Lockdowns. Alles kein Grund, nervös zu sein? So einfach ist das wiederum nicht.

Wenig Wissen über Inflation

Obwohl Ökonomen viel über Inflation reden, gibt es wenig Wissen dazu, wann genau sie zum volkswirtschaftlichen Problem wird, wann also Preise so stark steigen, dass sich eine allgemeine Unsicherheit breitmacht, sodass weniger investiert und konsumiert wird, weil Vermögen rasant entwertet werden und die Wirtschaft stockt.

Eine Studie des Internationalen Währungsfonds zeigt, dass es keine empirischen Belege dafür gibt, dass eine Inflationsrate von vier oder acht Prozent weniger Wachstum bedeutet. "Es gibt keine harte Grenze. Inflation wird zum Problem, wenn sie ein sich selbst verstärkender Prozess wird. Wenn die Inflation steigt, weil die Inflation steigt", sagt der Wiener Ökonom Philipp Heimberger vom Institut wiiw.

Die Theorie besagt, dass eine Kombination aus hohen Inflationserwartungen und sehr starkem Lohnanstieg notwendig ist, damit eine "Lohn-Preis-Spirale" in Gang kommt und die Preise immer weiter zulegen.

In Europa ist bisher laut EZB nirgendwo zu beobachten, dass die Löhne stärker steigen als vor der Krise. Das könnte daran liegen, dass in vielen Ländern die Arbeitslosigkeit noch immer höher als vor der Pandemie ist. Außerdem sind immer noch viele Arbeitnehmer in Kurzarbeit

Freilich könnte sich das im Herbst ändern und eine neue Dynamik entstehen. Bei den Notenbankern in Frankfurt erwartet man das nicht: "Angesichts der bislang sehr moderaten Lohnerhöhungen halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass es zu einer sich selbstverstärkenden Lohn-Preis-Spirale kommt, die zu einem deutlichen Überschießen der Inflation führt", argumentiert Isabel Schnabel, die Mitglied im Direktorium der EZB ist.

Die USA sind ein anderer Fall

In den USA gibt es dagegen bereits Indizien dafür, dass sich etwas tut: Die Löhne für das Viertel der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen sind zuletzt laut US-Notenbank um 4,6 Prozent gestiegen. Das ist der höchste Wert seit der Finanzkrise. In oberen Einkommensgruppen gab es wenig Bewegung. Aus verteilungspolitischer Sicht mag die Entwicklung begrüßenswert sein. In den USA sorgt sie dennoch dafür, dass die Debatte über einen Exit aus der lockeren Geldpolitik lauter wird.

Ökonomen wie Moritz Schularick von der Universität Bonn argumentieren, dass Europa sich die Entwicklungen in den USA mit einer gewissen Gelassenheit ansehen kann. Die US-Regierung hat mehr Geld im Kampf gegen die Pandemie in die Realwirtschaft gepumpt als Europa, weshalb dort das Risiko einer Überhitzung höher ist. In den vergangenen zwölf Monaten wurden rund 3.000 Milliarden Dollar an Wirtschaftshilfen in den USA genehmigt.

Der Ökonom Olivier Blanchard geht davon aus, dass durch die Pandemie im Land eine Nachfragelücke von 1.000 Milliarden Dollar entstanden ist. Es ist also nicht nur Geld da, um den ausgefallenen Konsum nachzuholen, sondern weit darüber hinaus. Die Pandemie war eine Zeit der Experimente. Die Zeit danach ist es auch. (András Szigetvari, 29.8.2021)