Lee "Scratch" Perry war eine der prägendsten Figuren für die Genres Reggae und Dub.

Foto: imago/Carsten Thesing

Kurz gesagt, ohne Lee "Scratch" Perry wäre nicht nur die Geschichte des Reggae anders verlaufen. Ohne Perry und seine revolutionäre Entdeckung des Tonstudios als eigenständiges, ja wesentliches Instrument wäre auch die gesamte Musikgeschichte möglicherweise zu ähnlichen, aber nicht denselben Ergebnissen gelangt. Das Studio bedeutete dem spirituell und pharmazeutisch gut unterfütterten kleinen Mann aus Jamaika teilweise weitaus mehr als ein Ort, an dem Musiker ihre Lieder aufnehmen.

Das Studio besitzt laut Lee "Scratch" Perry ein Eigenleben. Im Studio gehen auch Geister um. Mit Kerzen, Zaubersprüchen, auf die Tonbänder und ins Mischpult geblasenem Marihuanarauch oder darauf gespucktem Whiskey oder Rotwein kann man versuchen, sie gütig zu stimmen. Musikaufnahmen, die nicht gut sind, vergräbt man im Garten. Wenn das alles nicht mehr klappt, weil der Teufel sich darin breitgemacht hat, brennt man die Hütte einfach nieder.

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Andere Stimmen sprachen damals von Erpressungsversuchen seitens jamaikanischer Gangster, die einen Anteil an Perrys Gewinnen einforderten. Wieder andere sprachen von einem Brand aufgrund eines elektrischen Defekts. Perry hatte davor zwischen 1973 und 1979 versucht, während der Studioaufnahmen im Black Ark Studio mit Leuten wie Junior Murvin (Police and Thieves), Max Romeo (War Ina Babylon) oder den Congos (Heart of the Congos) oder mit seiner eigenen Band The Upsetters den auch politisch kodierten Roots Reggae zu definieren. Das geschah, indem er den zuvor vorherrschenden Rocksteady verlangsamte und zu einem im Herzschlagrhythmus pulsierenden, ungleich tieferen und raueren Stil machte. Perry setzte sich nach dem Brand jedenfalls zügig nach London und später in die Schweiz ab.

Zuvor hatte er ab den 1960er-Jahren für Studio-One-Besitzer Clement "Coxsone" Dodd oder den Produzenten Joe Gibbs als Assistent, Tontechniker oder Talentescout gearbeitet und sich später mit eigenem Studio und dem Label Upsetter um hunderte Produktionen verdient gemacht. Um 1970 "entdeckte" er den jungen Bob Marley mit seiner Band The Wailers. Letztere fühlten sich von Perry (wie auch diverse andere Künstler) um ihr Geld betrogen und verließen ihn noch vor dem großen Durchbruch.

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Das eigentliche Verdienst des bis zuletzt aktiven Perry war aber die Entwicklung der sogenannten Dubmusik, ohne die heutige elektronische Musiken schlicht und einfach nicht vorstellbar wären. Perry nahm in den 1970ern die Studiobänder von Reggae-Acts und zerlegte sie in ihre Einzelteile. Gesang und Melodieinstrumente tauchten nur noch in Spurenelementen auf. Der Bass wurde in die niedersten Frequenzen gelegt und lautstärkemäßig hochgefahren, die Schlagzeugspuren wurden zerhackt, verlangsamt und in den Hall- und Echoraum gejagt. Die berühmten Off-Beats entstanden.

Perry schleifte die Tonbänder weg von der Maschine durch den Raum und um Sesselfüße, zerdehnte damit die Zeit, die bekanntlich immer nur eine Zigarette dauert. Dazu spielte Perry Alltagsgeräusche aus seiner näheren Umgebung wie Hühnergackern, Pistolenschüsse oder unverständliches Gebrabbel ein und wollte damit hinaus zu Gott ins Weltall. Möglicherweise waren bei Perry auch einige Sicherungen abseits seiner Studios durchgebrannt.

Sein letztes, das Secret Laboratory in der Schweiz, wurde übrigens 2015 warm abgetragen. Perry lebte dort mit Frau und zwei Kindern. Die letzten Monate hatte er sich allerdings in seine Heimat Jamaika zurückgezogen, wo er jetzt im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Ein letztes Album von ihm, Lee 'Scratch' Perry's Guide to the Universe, soll demnächst erscheinen. (Christian Schachinger, 30.8.2021)