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Immer wieder wird vor dem Verfassungsgericht in Warschau gegen eine Abkehr des Landes vom EU-Recht demonstriert.

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Bereits einmal hat das Verfassungsgericht in Warschau die Entscheidung in letzter Minute verschoben. Immerhin geht die Fragestellung an die Substanz der europäischen Integration: Kann europäisches Recht eigentlich über dem polnischen Verfassungsrecht stehen? Polens Regierung, die ja vor allem im Zusammenhang mit ihrer umstrittenen Justizreform im Clinch mit Brüssel liegt, hat da so ihre Zweifel. Am Dienstag steht das Thema nun erneut auf der Tagesordnung der polnischen Verfassungshüter. Ob diesmal eine Entscheidung fällt, steht in den Sternen. Genau das zeigt aber auch, wie heikel diese Frage ist. Denn lautet die Antwort, dass EU-Recht gegenüber nationalem Recht das Nachsehen hat, dann wäre das für Brüssel eine harte juristische Nuss – und bliebe auch für Warschau nicht ohne Konsequenzen.

STANDARD: Was sind eigentlich die juristischen Rahmenbedingungen für das Verhältnis zwischen nationalem Verfassungsrecht und Unionsrecht?

Obwexer: Die europäische Integration beruht auf völkerrechtlichen Verträgen. Von Beginn an haben die Mitgliedsstaaten dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Kompetenz übertragen, die Anwendung des Rechts bei der Auslegung dieser Verträge zu sichern. Schon in den 1960er-Jahren hat der Gerichtshof entschieden, dass das damalige Gemeinschaftsrecht – das heutige Unionsrecht – dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten immer vorgeht. Das ist ständige Judikatur, die zum Zeitpunkt des Beitritts Polens zur EU bereits jahrzehntelang gegolten hat.

Europarechtsexperte Walter Obwexer fürchtet eine "bedenkliche und massive Beeinträchtigung der Rechtsunion".
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STANDARD: Was hätte es für Konsequenzen, wenn das Verfassungsgericht in Warschau nun zur Ansicht kommen sollte, dass es genau umgekehrt ist, dass also Polens Verfassungsrecht über dem EU-Recht steht?

Obwexer: Es würde bedeuten, dass im Falle eines Konflikts zwischen Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht in Polen das nationale Verfassungsrecht anzuwenden ist und das Unionsrecht zurücktreten muss. Das wäre eine bedenkliche und massive Beeinträchtigung der Rechtsunion EU.

STANDARD: In all den vielen Streitfällen, wo Unionsrecht durch politische Entscheidungen bedroht scheint, kann der EuGH als Schlichtungsinstanz auftreten. Im Fall Polens aber wäre es nun anders: Es wären zwei Gerichtshöfe, die einander gegenüberstehen. Eine rechtliche Sackgasse?

Obwexer: Dieses Problem wäre in der Tat sehr schwer zu lösen. Die Europäische Kommission müsste umgehend ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einleiten. Der EuGH in Luxemburg müsste dann feststellen, dass Polen mit dieser Entscheidung gegen die Verpflichtung verstößt, das Unionsrecht uneingeschränkt einzuhalten – da bliebe ihm im Lichte seiner bisherigen Judikatur gar nichts anderes übrig. Polen wäre dann verpflichtet, die Rechtsprechung seines Verfassungsgerichts zu ändern. Und das könnte es wohl nur tun, indem es in seine nationale Verfassung hineinschriebe, dass Unionsrecht auch dem polnischen Verfassungsrecht vorgeht.

STANDARD: Genau das wäre aber sehr unwahrscheinlich und so ziemlich das Gegenteil von dem, was die polnische Regierung derzeit anstrebt. Wie könnte Brüssel also reagieren, wenn Warschau nicht einlenkt?

Obwexer: Es gäbe drei Möglichkeiten. Erstens könnte man über das politische Sanktionsverfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit gehen, durch das das Stimmrecht Polens ausgesetzt werden kann. Das verlangt aber einen Beschluss im Europäischen Rat, der von allen anderen Mitgliedsstaaten einstimmig gefällt werden muss.

STANDARD: Also im Rahmen des sogenannten Artikel-7-Verfahrens, wo aber wohl Ungarn nicht mitzieht.

Obwexer: Genau. Das heißt, das wird politisch nicht funktionieren. Die zweite Möglichkeit: Die EU kann ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, es könnte finanzielle Sanktionen für Polen geben. Und drittens gibt es noch die Möglichkeit, finanzielle Förderungen, die Polen in den nächsten sieben Jahren aus dem EU-Haushalt zu gewähren sind, nicht auszuzahlen. Und zwar auf Basis der Konditionalitätenverordnung, die die Union erst voriges Jahr erlassen hat. Für Polen könnte es also teuer werden.

STANDARD: Diese Verordnung kann aber nur angewendet werden, wenn ein Missbrauch von EU-Geldern droht.

Obwexer: Das stimmt. Aber die Mittel werden ja auf Basis des EU-Rechts ausgeschüttet, und da ist genau vorgesehen, welchen Zielen sie dienen müssen und wie sie eingesetzt werden dürfen. Wenn sich Polen nicht daran hielte, könnte es diese Verpflichtungen ganz leicht über das Erkenntnis seines Verfassungsgerichts, dass polnisches Verfassungsrecht vorgeht, aushebeln. Insofern ist hier die Anwendung der Konditionalitätenverordnung nicht ausgeschlossen. Die EU müsste das aber natürlich gut begründen.

STANDARD: Und wenn Polen trotz allem nicht nachgibt?

Obwexer: Dann hat die Union keine weiteren rechtlichen Möglichkeiten. Was ihr natürlich bliebe, sind politische Verhandlungen, um eine Lösung zu suchen. Oder, als letzte Konsequenz, Polen nahezulegen, die Union nach dem Beispiel Großbritanniens zu verlassen. Aber diese Entscheidung obliegt Polen allein. Ausschließen kann die Union Polen nicht. (Gerald Schubert, 30.8.2021)