Dem Gesundheitsökonomen Ernest Pichlbauer ist es wichtig, Pflegebedürftige mobil und partizipativ zu halten.

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Mehr Geld gegen den Pflegekräftemangel: Am Wochenende plädierte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner für ein Bruttogehalt von 1.700 Euro pro Monat für Menschen in der Pflegeausbildung. Ähnlich wie bei Polizeischülern soll der Bund die Kosten dafür tragen. Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer hält wenig von der Idee. Er sieht Österreich in einem Dilemma, hat aber auch Lösungsvorschläge.

STANDARD: Was halten Sie vom Vorschlag von SPÖ-Chefin Rendi-Wagner, an Pflegeschüler 1.700 Euro Bruttogehalt zu zahlen?

Pichlbauer: Ich glaube nicht, dass dieser Vorschlag realistisch ist. Ich glaube auch nicht, dass er notwendig ist. Die Zahlen zeigen eindeutig, dass wir keinen Pflegekräftemangel haben – auch wenn das ständig diskutiert wird. Wir haben pro Kopf nach Norwegen die meisten angestellten Pflegekräfte in Europa. Wir haben offensichtlich das Problem, dass die Leute diesen Job nicht machen wollen. Sie gehen etwa lieber halbtags arbeiten als Vollzeit. Wir schaffen es im öffentlichen Pflegebereich nicht, die Leute, die eine hohe intrinsische Motivation haben, ausreichend zu fördern. Das hat sehr viel mit Arbeitsbedingungen zu tun und weniger mit Geld.

STANDARD: Welche Arbeitsbedingungen meinen Sie konkret?

Pichlbauer: Wir haben eine Fehlsteuerung des Systems. Wir setzen erst zu sehr auf informelle Pflege. Dadurch sind die Patienten, die durch öffentliche Pflegekräfte gepflegt werden müssen, schwerere Pflegefälle. Das demotiviert die Pflegekräfte. Es ist nicht die Bezahlung, es ist die Art und Weise, wie wir Pflegekräfte einsetzen: wie Minutenarbeiter. Die Politik hätte es gerne anders. Die Politik hätte gerne, dass wir zu wenig ausbilden. Dass wir einen Mangel haben. Dass wir mit Geld alles lösen können. Das ist tatsächlich nicht die Realität. Wir haben in Österreich jetzt ein System, wo wir die Patienten zuerst ins Bett pflegen und dann vom Bett ins Heim. Wir wissen: Je professioneller die Pflege umgesetzt wird, umso weniger pflegebedürftige Personen gibt es in einem Land. Weil frühzeitig professionell eingesetzte Pflege die Progression der Pflege senkt oder sogar die Pflegebedürftigkeit selbst. Professionelle Pflege verhindert Pflegefälle. Bei unserem jetzigen System ist das Denken aber so: Pflegefälle sind da, und wir müssen die jetzt bis zum Tod satt, sauber, sicher betreuen. Das war vielleicht bis in die 1960er-Jahre so, vielleicht noch in den 1970ern. Seitdem hat die Pflegewissenschaft Fortschritte gemacht.

STANDARD: Inwieweit ist Rendi-Wagners Vergleich mit Polizeianwärtern legitim? Es handelt sich um zwei doch sehr unterschiedliche Berufsgruppen.

Pichlbauer: Der Vergleich ist für mich nicht verständlich. Ich gehe davon aus, dass irgendjemand eine Analogie ziehen wollte. Die Basis dieser Analogie ist: Geldverschenken ist immer sexy. Wenn es das Geld des Bundes ist, sind alle glücklich. Das ist die Motivation dieses Vorschlags, behaupte ich. Wenn die Attraktivität des Jobs da ist, dann gehen die Leute auch gerne in die Ausbildung. Aber wenn weder Perspektiven da sind noch eine sinnvolle Umsetzung des Gelernten, dann wird es nicht gehen. Hier versucht man billige Arbeitskräfte zu finden, und Auszubildende sind billig. Sie sollen etwaige Lücken, die durch Demotivation etablierter Arbeitskräfte entstehen, füllen. Und das Ganze soll nicht auf Kosten derer gehen, die für die Arbeitsbedingungen zuständig sind – wie Spitäler, Länder, Gemeinden –, sondern über den Bund. Er soll dann die Gehälter der Auszubildenden bezahlen, die man dann als billige Arbeitskräfte einsetzen kann, wenn man will. Das ist zynisch und widerspricht den Fakten.

STANDARD: Was passiert, wenn dieser Plan durchgeht und der Bund die Anwärter bezahlt?

Pichlbauer: Das wäre gefördertes Lohndumping. Dann wird man die Leute einfach missbrauchen, wie bei den Turnusärzten in der Zeit der Ärzteschwemme. Das ist faktisch gar nicht anders möglich. Und damit wird die Situation für die etablierten und gut ausgebildeten Kräfte nicht besser werden. "Leichte" Patienten werden dann von den Auszubildenden betreut. Und bei den etablierten Kräften bleiben noch schwerere Fälle übrig. Der Patienten-Mix der etablierten Kräfte wird noch frustrierender. Wenn bei einer bestimmten Berufsgruppe alle schwierigen Fälle landen, dann heißt das, dass die Leute aussteigen werden oder ihre Arbeitsstunden reduzieren, weil sie es einfach nicht mehr aushalten. In diesem Dilemma ist Österreich.

STANDARD: Wie kommt Österreich aus diesem Dilemma heraus?

Pichlbauer: Wie international üblich, sollte die Pflege aus dem Sozialsystem gezogen und als Teil des Gesundheitssystem verstanden werden. Dann würden sich ganz viele Probleme lösen. Pflegepräventive Maßnahmen könnten dann wie Medikamente öffentlich finanziert sein, ohne Vorauszahlungen von Angehörigen. In anderen Systemen ist nicht nur die Pflege-, sondern auch die Betreuungsleistung im Gesundheitssystem. Da wird beispielsweise vom öffentlichen System eine Einkaufshilfe bezahlt. Das ist in Norwegen so. Das funktioniert nach dem Gedanken: Was braucht der Patient? Was können die Angehörigen leisten? Und was ersetze ich durch professionelle Arbeit? Das Ziel muss sein, die Patienten im Alter mobil und partizipativ zu halten. Diesem Ziel muss alles untergeordnet werden. Das geht nur, wenn Kompetenzbereinigungen stattfinden und nicht nur über Geld gesprochen wird. Aber in Österreich sprechen wir nur über das Geld, weil wir die patientenorientierte Versorgung eigentlich nicht wollen. Wir wollen nicht in die Kompetenzen einschneiden. Wenn die Kompetenzen Schwierigkeiten machen, dann stecken wir mehr Geld rein – oder mehr billige Arbeitskräfte. (Ana Grujić, 30.8.2021)