Die deutsche Politik wird dieser Tage durch den "Abschied in goldener Herrlichkeit" von Angela Merkel, so die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), und die Aufholjagd des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz dominiert. Im Gegensatz zu allen ihren Vorgängern bleibt Kanzlerin Merkel auch beim Abgang die mit Abstand beliebteste Politikerin. Laut Umfragen finden 75 Prozent der Deutschen, dass sie eine gute Bundeskanzlerin ist.

Trotz der Fehler und der Versäumnisse während der 16 Jahre der Ära Merkel wird die Bundeskanzlerin wie "eine Säulenheilige geehrt" (NZZ), wohl in erster Linie dank der von den Biografen festgestellten "ungemein beruhigenden Wirkung" ihrer "vernunftgeleiteten Politik".

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SPD-Kanzlerkandidate Olaf Scholz.
Foto: REUTERS/MICHAEL KAPPELER

Die paradoxe Folge des Merkel-Kultes ist, dass der unausweichliche Vergleich der Amtsinhaberin mit den möglichen Nachfolgern in erster Linie dem Spitzenkandidaten der Union, Armin Laschet, schadet, der die Bilanz der Kanzlerin nicht kritisieren darf und dessen Schwächen infolge peinlicher persönlicher Pannen (unter anderem seines Lachens im Überflutungsgebiet) von allen Medien thematisiert wurden. Bloß 13 Prozent der Befragten würden ihn bei einer Direktwahl zum Kanzler wählen.

Die Rivalin Annalena Baerbock erwies sich auch als eine herbe Enttäuschung für die Grünen, nicht nur wegen ihres verschönten Lebenslaufs, der verschwiegenen Nebeneinkünfte und der Plagiate in ihrem Buch. Laut den letzten Umfragen liegt sie bereits 28 Prozentpunkte hinter dem SPD-Kanzlerkandidaten Scholz, der in der Kanzlerfrage auch Laschet um 23 Prozentpunkte überflügelt.

Gefühl der Sicherheit

Dass der anfänglich belächelte und verspottete sozialdemokratische Vizekanzler und Finanzminister sogar Wahlsieger sein könnte, liegt nicht nur an der persönlichen Schwäche seiner Rivalen, sondern auch an seinem Versprechen, soziale Reformen (Erhöhung der Mindestlöhne, Verbesserungen für Pflegekräfte, Ankurbelung des Wohnungsbaus) durchzuführen, und daran, dass seine pragmatische Führungskompetenz den Menschen das Gefühl der Sicherheit vermittelt. Mit dem Titel – Scholz als "Angela der Zweite" – unterstellt eine acht Seiten lange Spiegel-Reportage dem Kandidaten sogar den Versuch, als "Klon eines Vorgängers ins Kanzleramt zu kommen".

Man soll bei politischen Prognosen vorsichtig sein, aber eines lässt sich schon sagen: Die abgeschriebenen Sozialdemokraten sind dank der guten Umfragewerte ihres Spitzenkandidaten wieder im Spiel. Im Sinne der angestrebten Personalisierung ist die SPD zum ersten Mal seit 15 Jahren nicht nur an den Grünen, sondern sogar an der Union vorbeigezogen. Der 63-jährige Berufspolitiker sprach es unverblümt aus: "Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch."

Trotzdem bleibt die Kernfrage für die Zukunft offen, ob und wie er die durch Fraktionskämpfe gespaltene SPD nicht nur während des Wahlkampfs, sondern auch im Falle einer Regierungsbildung unter seiner Führung auf Dauer kontrollieren kann. Da Olaf Scholz eine mögliche Regierungskoalition mit den Nato-feindlichen Linken bisher nicht ausgeschlossen hat, könnten die Warnungen vor einem Linksbündnis am Wahltag noch seinem Höhenflug ein Ende setzen. (Paul Lendvai, 31.8.2021)