Für viele Franzosen sind sie der Inbegriff perfekten Designs: die magischen Gläser mit dem kleinen Bauch und den zwei filigranen Linien im oberen Drittel, die im Land jeder nur als Gigogne kennt. Seit ihrer Erfindung vor genau 75 Jahren sind sie in Küchen, Kantinen und Krankenhäusern allgegenwärtig. Es gibt sogar ein Spiel in französischen Schulkantinen: Auf die Frage "Wie alt bist du?" schauen die Schüler auf der Unterseite ihrer Gigogne-Gläser nach, wo eine Zahl zwischen 1 und 48 eingraviert ist. Wer das Los des Jüngsten zieht, muss den Mitschülern am Tisch die Wasserkaraffen füllen – oder, noch schlimmer, am Ende der Mittagspause die Teller einsammeln.

Wohl fast jeder zwischen Fernost und Hollywood hatte schon einmal den vielseitigen Superklassiker "Picardie" zwischen den Fingern.
Foto: New Duralex International

"Das Gigogne-Glas war eines der ersten Designobjekte der Moderne, das für jedermann zugänglich war", sagt Jean-Luc Olivié, Chefkurator der Glasabteilung des Pariser Kunstgewerbemuseums, in dessen Sammlung sich auch das Gigogne befindet. "Es ist ein Gegenstand, den jeder Franzose kennt." Wer das Glas ursprünglich entworfen hat, ist nicht überliefert, den Hersteller aber kennt im Land jedes Kind: Es ist die Firma Duralex aus La Chapelle-Saint-Mesmin, einem Industriegebiet am Rand von Orléans.

Die Glashütte befindet sich in einer 1927 von einem Essigfabrikanten gegründeten Parfumflaschenfabrik, die 1934 von Saint-Gobain übernommen wurde, der damaligen Mutter von Duralex. Zunächst wurden hier besonders widerstandsfähige Windschutzscheiben gefertigt, doch nach dem Krieg spezialisierte sich Duralex allein auf die Herstellung von Tafelgeschirr.

Hart im Nehmen

Diese Geschichte erschien in einer RONDO-Ausgabe rund um das Thema Glas.

Während der "Trente Glorieuses", der französischen Wirtschaftswunderjahre, waren Duralex-Gläser aus dem Hausstand der modernen französischen Frau nicht mehr wegzudenken. Das klare Design der Produkte und ihre Beständigkeit machten Duralex zum Synonym für Stärke, Schönheit und Funktionalität. "Viele Generationen von Franzosen sind mit diesen Produkten aufgewachsen", sagt Frédéric Morin Payé, Vertriebschef der Marke. Selbst in der Online-Boutique des Élysée-Palastes werden sie verkauft. "Weil die Gläser günstig und gut gestaltet, langlebig und unzerbrechlich sind, genießen diese Designklassiker in Frankreich einen fast mythischen Status", sagt Kurator Olivié. "Sie gelten als unkaputtbar."

Denn Duralex-Gläser sind zweieinhalbmal härter als herkömmliches Kalk-Natron-Glas. Das führte auch zum Leitspruch der Marke, den man Ciceros Philosophie entlehnte: "Dura lex, sed lex" – "Das Gesetz ist hart, aber es ist Gesetz." In einem Fernsehspot von 1965, der sogar in Cannes ausgezeichnet wurde, propagierte Duralex "vier unglaubliche Versuche": "Nutzen Sie es als Hammer, lassen Sie es fallen, schlagen Sie drauf, legen Sie es eiskalt in kochendes Wasser! Das Glas von Duralex zerbricht nicht." In Wahrheit sind natürlich auch Duralex-Gläser nicht völlig unkaputtbar. Aber falls doch mal eines zu Bruch geht, weil es unglücklich auf einer Kante aufschlägt, zerspringt es in tausende kleine Splitterln.

Kontrollierte Spannung

Die Schockbeständigkeit der Gläser beruht auf einem speziellen Herstellungsverfahren. Eine Mischung aus Sand, Kalk und Tonerde wird bei 1300 Grad geschmolzen, bevor die kleinen Kugeln in eine Form gegossen werden. Hier liegt auch das Geheimnis des "Alters": Es ist die Nummer, die den jeweiligen Hohlraum der Form identifiziert.

Nachdem die Temperatur auf 450 Grad gesunken ist, wird das Glas durch einen kalten Luftstrom geleitet. Dabei wird das Objekt einem Thermoschock ausgesetzt, der die Temperatur auf 20 Grad reduziert. Diese kontrollierte Spannung verleiht dem gehärteten Glas seine Klarheit und Festigkeit. Der Prozess hat sich seit den Vierzigerjahren nicht wesentlich verändert, die Produkte werden noch heute in einem gigantischen Ofen hergestellt, der größer als manches Wohnhaus ist.

Doch der Erfolg währte nicht ewig. Als Saint-Gobain sich Mitte der Neunzigerjahre zum Verkauf der Marke Duralex entschloss, lagen harte Zeiten hinter der Glashütte. Sie stand vor einem Dilemma: Während billig produzierte Imitate aus China den Markt überschwemmten, kauften selbst treue Kunden keine neuen Gläser mehr. Warum auch? Ihre hielten ja ewig. Mit umgerechnet gut 100 Millionen Euro Umsatz und mehr als 1000 Mitarbeitern ging Duralex 1997 an den italienischen Glashersteller Bormioli Rocco. Die Italiener, unken Mitarbeiter heute, hatten nicht viel übrig für die geschichtsträchtige französische Marke und waren vor allem am Vertriebsnetz interessiert. Eine unheilvolle Zeit.

Überlebenskampf

Nach vielen Irrungen und Wirrungen legte das Handelsgericht Orléans die Geschicke des Unternehmens 2008 in die Hand des französisch-britischen Industriellen Antoine Ioannidès. Der ehemalige Vertriebler für den Nahen Osten übernahm die Firma mithilfe libanesischer Großimporteure. Analysten gaben ihm keine drei Monate.

Doch gemeinsam mit einigen Unterstützern rationalisierte er die Arbeitsabläufe, erhöhte Einzelhandelspreise und behielt Lohn und Sozialleistungen bei. So konnte er 200 von noch 240 Arbeitsplätzen retten. "Wir haben das Unternehmen gekauft, weil wir das Potenzial der Marke kannten. Duralex ist nicht ein Glasmacher unter vielen", sagt Morin Payé. Weil anfangs keine Bank einen Kredit gewähren wollte, vermittelte die damalige Finanzministerin Christine Lagarde persönlich.

Denn Duralex ist eine Ausnahmeerscheinung: Er ist der einzige Hersteller, der all seine Glaswaren in Frankreich produziert. Das Signet "Made in France", das sich auf der Unterseite jedes Glases findet, hat der Marke zuletzt wieder Aufwind gegeben. Duralex verkauft mittlerweile ein Fünftel seiner Produkte im Heimatland – in schlechten Zeiten waren es gerade mal drei Prozent.

Der Rest geht ins Ausland; über 100 Märkte werden bedient, die größten sind China, Amerika, die Niederlande, Ägypten und Großbritannien. Noch vor nicht allzu langer Zeit war übrigens Afghanistan Exportmarkt Nummer eins für die Franzosen – dank des 1954 entworfenen Picardie-Glases.

Das Glas Gigogne hat 75 Jahre auf dem gläsernen Buckel und ist ein Stück Designgeschichte.
Foto: New Duralex International

Mit seinen leicht zu handhabenden facettierten Seiten und der abgerundeten Kante an der Glaslippe gilt das Modell im Nahen Osten als ideales Teeglas. Es gibt sogar ein Bild von Osama bin Laden mit ihm. Das Picardie erinnert entfernt an die typische facettierte Tulpenform französischer Kristallgläser des 18. Jahrhunderts. Die konische Form passt sich der Hand natürlicher an als ein geradliniges Glas, durch die Vertiefungen lässt es sich selbst mit nassen Händen sicher greifen. Die zarten Grate zwischen den Rillen lassen das Picardie dünner und zarter erscheinen.

Hollywoodkarriere

Mehr noch als das Gigogne hat das Picardie eine internationale Karriere gemacht. Als eines der raffiniertesten, aber unprätentiösesten Beispiele für funktionales Design des 20. Jahrhunderts wird es längst nicht mehr nur von französischen Familien und afghanischen Dorfvorstehern genutzt. Als ultimatives Bistroglas hat das Picardie nicht nur Bars und Coffeeshops in aller Welt erobert, es tauchte auch in Nouvelle-Vague-Filmen auf. In Hollywood-Blockbustern spielt es neben Cate Blanchett oder Brad Pitt; im Bond-Film Skyfall trinkt Daniel Craig einen Macallan-Whisky aus dem Picardie, während ein Skorpion auf seiner Hand tanzt. Es ist das vielseitigste Modell des Duralex-Katalogs und wird in Modeläden wie Maison Kitsuné und Arket ebenso verkauft wie bei Carrefour und Walmart.

Dass das popkulturelle Erbe nicht ausreicht, um eine Marke am Leben zu halten, offenbarte sich im letzten Jahr. Ioannidès konnte zwar den Umsatz ankurbeln, hatte aber Mühe, die Bücher auszugleichen. Als der Export im Zuge der Corona-Krise zum Erliegen kam und und die Gastrokunden ihre Aufträge stornierten, brach das Geschäft um 60 Prozent ein. Dem Unternehmen, das schon seit 2017 mit einem Produktionsrückgang durch Probleme beim Austausch des Brennofens kämpfte, brach es das Genick. Im September 2020 wurde Duralex unter Zwangsverwaltung gestellt, mit Schulden in Höhe von rund 32 Millionen Euro.

Für einen Moment sah es so aus, als würde die Geschichte der traditionsreichen Glashütte hier enden. Doch im Januar übernahm die Mutter des Konkurrenten Pyrex das Unternehmen für 3,5 Millionen Euro. Geschäftsführer José Luis Llacuna erklärte, Duralex mit einem ehrgeizigen Entwicklungsprogramm wieder in eine "weltweite Führungsrolle" zu bringen: Die Belegschaft – knapp 250 Beschäftigte – werde beibehalten, der Umsatz solle bis 2024 verdoppelt werden.

17 Millionen Euro würden in dieser Zeit für die Modernisierung des Standorts bereitgestellt, um zusammen mit dem Pyrex-Werk, das anderthalb Autostunden südlich liegt, ein neues Industriezentrum in der französischen Region Centre-Val de Loire zu gründen. "Duralex ist eine Marke von ausgezeichnetem Ruf, sein Potenzial ist enorm", sagt Llacuna. Schließlich entstehen bei Duralex weit mehr als nur Gläser: Bei Duralex läuft Kulturgut vom Band. (Florian Siebeck, RONDO, 7.9.2021)