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Wer die Liebe nicht bereits im echten Leben gefunden hat, sucht heute oft im virtuellen nach Ersatz.

Foto: Getty Images

"Hast du gestern die Mücke in der ZiB 2 gesehen?", haucht meine Freundin Libby am Telefon. Inzwischen weiß ich: Mit Mücke ist unser Gesundheitsminister, Wolfgang Mückstein, gemeint. Seit seiner Angelobung ist Libby ein TV-Nachrichtenjunkie. Diese Kombination aus olivgrünen Augen und Bassstimme, das sei für sie "einfach zum Dahinschmelzen". Trotz seines anstrengenden Postens scheine er im Sommer Zeit für Sport gehabt zu haben, stellt sie mit Erleichterung fest: "Ist er nicht sexy, so braungebrannt?"

Im Schaumbad der Gefühle

Ich kann nachvollziehen, was meine Freundin umtreibt: dieser lässig-verschmitzte Blick. Dieser entschlossene Zug um den Mund. Dazu der dichte Bürstenhaarschnitt. Damit hat man das Zeug zum Star einer US-Vorabendserie. Ja, mit so einem möchte man über den Schneeberg wandern. Vor einer Schutzhütte in der Abendsonne sitzen. Sich stundenlang über Brustwickel und Impfpflicht austauschen!

Beim virtuellen Traummann kommt es eben nur darauf an, was er in einem triggert – und das kann alle paar Monate etwas ganz anderes sein. Ich kenne Single-Männer und -Frauen, die momentan total auf Locken abfahren. Wenn die schlecht drauf sind, ziehen sie sich einfach fünf Folgen von The Mentalist rein. Wie Simon Baker alias Patrick Jane da im Dreiteiler durch die kalifornische Steppe latscht. Wie er jedem Verbrecher mit seinen atlantikblauen Augen auf den Grund der Seele blickt – das hat etwas, das kann einem schon das Blut in Wallung bringen (falls nötig: sieben Staffeln lang).

Ähnliches wird hier mit Ähnlichem geheilt, in minimaler Dosierung, ganz wie in der Homöopathie. Mehr braucht es ja meistens gar nicht, um sich mental auf Vordermann zu bringen. Moderne Achtsamkeitstrainer nennen diesen Vorgang Visualisierung. Früher nannte man es Fantasie.

Mit der Kraft des Glaubens

Ich vermute, dass meine Freundin Libby in einer ernstzunehmenden Romanze mit Mücke steckt. Seitdem geht sie beschwingt durch die Stadt, mit "Rouge Allure" auf den Lippen. Vor kurzem brüstete sich etwa eine Bekannte, dass sie über Jahre Patientin in der Praxis von Dr. Mückstein gewesen sei. Ja, der Minister hätte sie sogar mehrmals persönlich mit dem Stethoskop abgehört. Unbeeindruckt quittierte Libby all diese Angaben mit einem Lächeln. Ohne jemals den Wahrheitsnachweis anzutreten, weiß sie einfach, dass es in ihrem Fall niemals beim Abhören geblieben wäre. Niemals! – Abgesehen davon ist Libby jetzt auch wieder bereit für echte Dates. (Ela Agnerer, RONDO, 15.9.2021)