Sebastian Herkners Studio liegt nicht wie das anderer Topdesigner in Mailand, London oder Paris, sondern in Bad Mergentheim im deutschen Baden-Württemberg. Die Globalisierung macht’s möglich, meint er und erzählt bei seinen Vorträgen auch jungen Leuten, dass sie nicht mehr unbedingt in die Metropolen ziehen müssen. Es lasse sich heute enorm viel digital erledigen und so auch Geld sparen. Letzteres dürfte der Deutsche, der einst ein Praktikum bei Stella McCartney absolvierte, nicht mehr nötig haben. Auf seiner Kundenliste stehen so renommierte Namen wie Thonet, Wittmann, Dedon und Moroso.

Zu Sebastian Herkners Vorbildern zählen keine großen Namen. Es sind die Handwerker, die es ihm angetan haben. Auch in Sachen Glas.
Foto: Gaby Gerster

STANDARD: Sie arbeiten gern mit Glas, es ist in zahlreichen Ihrer Leuchten, Trinkgläser und Tische zu finden. Sogar in Regalen. Was ist für Sie das Faszinierende am Werkstoff Glas?

Herkner: Glas strahlt für mich eine unglaubliche Magie aus. Es ist im Alltag äußerst präsent, egal ob wir trinken, aus dem Fenster oder durch eine Brille schauen. Hinzu kommen unter anderem Aspekte wie seine spannende Entstehungsgeschichte und die Möglichkeiten, es zu recyceln.

STANDARD: Es ist den Menschen offensichtlich gar nicht bewusst, wie omnipräsent Glas ist.

Diese Geschichte erschien in einer RONDO-Ausgabe rund um das Thema Glas.

Herkner: Ja, das stimmt. Auch die historische Bedeutung ist vielen nicht klar. Denken Sie nur an die vielen Beispiele aus der Architektur. Früher hatten die Menschen keine Fenster, sondern saßen in finsteren Hütten. Mit dem Glas kamen dann die Fenster, zum Teil sehr bunte Fenster. Es wurde heller und somit auch hygienischer. Auch in der Medizin wäre vieles ohne Glas nicht möglich gewesen. Ich denke dabei an Reagenzgläser oder Mikroskope. Selbst Spritzen wurden lange Zeit aus Glas gefertigt. Auch die Solarzellen und somit der Beitrag zum Klimaschutz sollte nicht vergessen werden. Es nimmt gar kein Ende. Mir fällt auch noch der Anteil an der Kommunikation ein. Im Atlantik liegt zum Beispiel eine Glasfaserleitung. Glas ist eines der wichtigsten Materialien, die wir haben.

STANDARD: Wie sieht es mit der Sinnlichkeit von Glas aus? Welchen Charakter schreiben Sie dem Material zu?

Herkner: Schon als Kind bekommt man von den Eltern gesagt: "Pass auf, lass das Glas nicht fallen!" Ich glaube, man hat einen gewissen Respekt, eine gewisse Ehrfurcht vor dem Material. Dadurch wohnt ihm auch etwas Verlockendes inne. Hinzu kommen Farbenspiele, Reflexionen etc. Kirchenfenster haben mich zum Beispiel schon als Kind fasziniert. Erst im vergangenen Jahr wurden übrigens drei Kirchenfenster des Künstlers Gerhard Richter im Saarland präsentiert. Sogar in diesem Bereich gibt es aktuelle Bezüge.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass man auf Glas mehr achtgibt als auf andere Materialien?

Herkner: Nun, zum Beschützen fällt mir etwas ganz anderes ein. Es wird illegal sehr viel Holz geschlagen. Es gibt aber auch einen unglaublichen Raubbau an Sand, den wir für Glas benötigen. In Westafrika sind meines Wissens 40 Prozent der Strände ihres Sandes beraubt, weil wir ihn für Glas und Beton benötigen. Umso spannender sind die Recyclingmöglichkeiten in Sachen Glas. Man denke einerseits an die am Wochenende geleerten Weinflaschen, aber auch an das mögliche Wiedereinschmelzen von Ausschuss in Glashütten.

Den "Bell Table" entwarf Sebastian Herkner für ClassiCon. Der gläserne Fuß wird auf traditionelle Weise in eine Holzform geblasen.
Foto: Hersteller

STANDARD: Apropos achtgeben, bringen Scherben Glück? Oder anders gefragt: Wie reagieren Sie, wenn etwas aus Glas auf den Boden fällt?

Herkner: Nun, da geht es wohl eher um den Punkt, was dieses Glas gekostet hat. Wenn es eine teure Vase ist, wäre ich sehr traurig, handelt es sich um ein Ikea-Glas, kauf ich’s mir halt um 50 Cent wieder. Dass Scherben Glück bringen, glaube ich nicht.

STANDARD: Wo liegen die Grenzen des Materials Glas?

Herkner: Es gibt Glashütten, die nach jahrhundertealten Traditionen arbeiten und nicht unendlich große Objekte blasen können. Dabei geht es weniger um den Lungendruck als um das Gewicht des Materials. Unser "Bell Table" ist eines der größten Dinge, die man hinkriegt. Den fertigen Spezialisten bei Murano. Man kann Glas natürlich auch gießen, zum Beispiel riesige Scheiben für die "Kathedralen" der Apple-Shops etc. Es gibt Glaszylinder, die müssen nach dem Guss über ein Jahr abkühlen. Glashäuser sind natürlich auch ein spannendes Thema. Aber da liegen dann auch schon die Grenzen.

STANDARD: Gibt es ein Glasobjekt, das Ihnen besonders ans Herz gewachsen ist?

Herkner: Muss es von mir sein?

STANDARD: Nein, gar nicht.

Herkner: Also ich stehe sehr auf diese Venini-Vasen aus Muranoglas, eine unglaubliche Manufaktur, die hinter ihnen steckt und faszinierende Techniken entwickelt hat.

Glastisch "Pastille" für Edition van Treeck
Foto: Hersteller

STANDARD: Es scheint, als hätte sich trotz neuer Technologien die Rolle der Materialien ein Stück weit rückwärts gewendet. Menschen haben mehr Sehnsucht nach Stein, Kupfer, Holz und eben auch Glas. Warum?

Herkner: So eine Bewegung erstarkt meistens in Zeiten von Krisen und Unsicherheiten, wie wir sie auch jetzt erleben. Menschen entwickeln Bedürfnisse nach Materialien, die eine Geschichte und Tradition aufweisen, also Messing, Glas etc. Wir kennen diese Materialien aus der Geschichte, von unseren Großeltern, Eltern und sonst woher. Da werden Wertigkeiten transportiert, deshalb laufen ja auch Vintage-Stores so gut. All das kommt natürlich auch dem Gedanken zugute, dass wir Produkte kaufen wollen, die wir wertschätzen und behalten wollen. Oder weitergeben. Oder vererben. Corona hat zu diesem Bewusstsein bestimmt beigetragen.

STANDARD: Auch der Begriff Storytelling ist diesbezüglich immer öfter zu hören.

Herkner: Klar, wenn ich mir eine Vase um 300 Euro kaufe und über sie erzählen kann, dass sie aus Murano stammt, entwickle ich einen ganz anderen Bezug zu ihr. Diese Mehrwerte werden wichtiger.

Aufbewahrungsglas "Ecrin" für Nude
Foto: Hersteller

STANDARD: Aber es ist doch auch so, dass Ihr Designer immer Neues herausbringen müsst. Das will bzw. muss verkauft werden. Dabei könnte man meinen, es gebe schon mehr als genug Entwürfe und Objekte, die wir besitzen.

Herkner: Sagen wir es so: Der Markt ist riesig, und er wächst. Früher wurde europäisches Design vorwiegend in Europa gekauft, inzwischen auch sehr stark in Asien. Ferner ändern sich auch die Bedürfnisse. Aber dennoch überlege ich mir sehr genau, was ich zur Lebenszeit eines Produkts beitragen kann. Auch der Service-Charakter wird immer wichtiger, also zum Beispiel das Angebot, dass ich mir ein Sofa beim Erzeuger neu überziehen lassen kann.

STANDARD: Das heißt, Sie haben nie eine Sinnkrise, wenn Sie einen neuen Sessel entwerfen?

Herkner: Da müsste ich mich ja völlig umorientieren und zum Beispiel ein Restaurant eröffnen. Ich denke immer schon darüber nach, wie ich ein Produkt sinnvoll gestalten kann. Das hat auch viel mit meinem handwerklichen Zugang zu tun. Auf den Handwerkszug sind während der vergangenen Jahre viele mitaufgesprungen, die zuvor noch Kunststofforgien veranstaltet hatten. Schauen Sie nur einen Philippe Starck an. Was der früher entworfen hat. Und was er heute macht. Gott sei Dank sind einige ganz schön erschrocken, als sie erkannten, wohin die Reise geht.

STANDARD: Die Industrie muss halt auch mitspielen ...

Herkner: Natürlich, die muss man erziehen oder sich seine Partner bzw. Hersteller aussuchen. Es gibt vor allem immer mehr junge Unternehmen, die anders denken. In vielerlei Hinsicht.

Leuchte "Oda" für Pulpo
Foto: Hersteller

STANDARD: Vor einigen Jahren erzählten Sie mir bei einem Interview, dass große Möbelmessen wie Mailand oder Köln nicht mehr auf die traditionelle Weise funktionieren würden. Dass man Marken anders inszenieren müsse. Nun steht die Mailänder Möbelmesse, nachdem sie krisenbedingt pausierte, wieder vor der Tür.

Herkner: Es hat sich bereits einiges geändert. Viele veranstalten kleine Events, drehen Filme, laden Händler ein. Mailand ist überhaupt ein Wahnsinnsextrem, ein Zirkus. Der Fokus ging von Möbeln immer mehr weg. Vertreten waren auch immer mehr Unternehmen wie Audi, Nike, Coca-Cola, Samsung etc. Das ist regelrecht explodiert. Und dann noch 400.000 Besucher. Ich denke, der Kern der Sache ist verlorengegangen. Meiner Meinung nach wird Mailand heuer viel intimer und europäischer. Und entspannter. Hoffentlich. Andererseits haben natürlich viele Firmen einen Produktions- und Präsentationsstau, obwohl es der Möbelbranche während der Krise gutging. Sie ging gestärkt aus der Sache raus.

STANDARD: Zwei Fragen zum Schluss: Möchten Sie immer noch als Schaukelstuhl wiedergeboren werden, wenn Sie als Möbel wieder auf die Welt kämen?

Herkner: Ob man heutzutage wiedergeboren werden möchte, ist die eine Frage. Ich denke dabei an die täglichen Nachrichten aus aller Welt. Aber wenn schon, dann bitte doch als Schaukelstuhl. Er steht für ein gutes Bild, er ist ein traditionelles Möbel, das immer wieder neu interpretiert wird und in Bewegung ist. In Bewegung zu bleiben ist wichtig.

STANDARD: Und wenn Sie als Material wieder auf die Welt kämen: Auf welches fiele Ihre Wahl, wenn Sie es sich aussuchen könnten?

Herkner: Bei dieser Frage würde ich mich wohl eindeutig für Glas entscheiden. Es ist, wie gesagt, ein tolles Material, und am Schluss landet man vielleicht sogar wieder als Sand am Strand. (Michael Hausenblas, RONDO, 14.9.2021)