Wer Europa per Bahn bereist, muss sein Fernweh zügeln: Impression vom Zugführerstreik im August, aufgenommen in Ludwigshafen am Bodensee.

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Schon die allererste Verkehrswende in Europa sorgte bei den Betroffenen vielfach für Ratlosigkeit und Überrumpelung. Der Siegeszug der Eisenbahn, im frühen 19. Jahrhundert eingeläutet, weckte allenthalben Skepsis. 1854 notierte der in Paris sesshafte Heinrich Heine zum Triumph der Eisenrosse süffisant: Die Elementarbegriffe von Raum und Zeit seien "schwankend" geworden. Die Folge? "Ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte." Ab nun würde durch die Eisenbahn "der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig".

In "vierthalb Stunden" reise man jetzt, so Heine, nach Orléans; in ebenso vielen Stunden von Paris nach Rouen. Der Dichter schien nicht nur die Ära der Höchstgeschwindigkeitszüge zu antizipieren. Was würde es erst geben, wenn Frankreichs Schienenstränge an diejenigen von Belgien und Deutschland angeschlossen wären? Berge und Wälder aller Länder kämen Paris nahe. Heine, der Emigrant: "Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee."

Wer heute aus freien Stücken die Vorzüge des europäischen Bahnverkehrs genießt, braucht – wenigstens aus Wiener Perspektive – nicht zu befürchten, dass ihm die Nordsee allzu rasch vor die Füße schwappt. Nach wie vor gilt, pandemische Besonderheiten ausgenommen: Seit die ganze Welt sich unter das Joch der "Time international" gebeugt hat, bereist, wer von A nach B zu kommen wünscht, dieselbe Bühne.

Endlich entschleunigt

Fernreisende sollen, schon um keine Kohlendioxide auszustoßen, die von Google Maps abgebildete Welt wieder via Bahnfenster bestaunen. Die von Verkehrsplanern herbeigewünschte Wende richtet an alle den gleichen Appell. Reisender, mach dich zur Schnecke! Entschleunige dich! Wer heute seinen Heine wiederliest, wird den Fortschritt gegenüber der Pionierära von vor 160 Jahren als mikroskopisch ansehen. Nur dass sich die Impulse verkehrt haben.

Was dem alten Spötter Heine sein Paris–Rouen, ist zum Beispiel dem Benutzer der DBB eine Reise von Essen (Ruhrpott) nach Nürnberg. Er wird für die Fahrtdauer rund fünf Stunden veranschlagen. Und dann, aufgrund von "Brems-Proben" im beschaulichen Würzburg, immer noch verspätet in den Zielbahnhof einrollen. Worauf der Zugbegleiter alle Bahngäste, die ihre Reise fortzusetzen wünschen, geduldig lehrt, sich ins Unvermeidliche zu schicken: "Ich sage Ihnen, welche Anschlüsse Sie jetzt noch erreichen …"

Der Autoverächter von heute ist Dekarbonisierer aus Überzeugung. Er vertraut auf das Schienennetz der "Mobilität". Er möchte helfen, die Verkehrswende herbeizuführen, und dennoch ein Anrecht darauf besitzen, sein Fernweh zu kurieren.

Ominöse fünfte Stunde

Eine neue Umfrage ergab folgendes Mobilitätsbild: Immerhin 15 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher erscheint es vorstellbar, den Pkw ganz aufzugeben – wenn nur der Personennahverkehr besser ausgebaut wäre. Umgekehrt wären zwei Drittel bereit, freiwillig vom Flugzeug auf die Bahn umzusteigen, wenn die errechnete Reisedauer die ominöse Schranke von fünf Stunden nicht übersteigt. Bei den deutschen Nachbarn haben die Verteilungskämpfe zwischen den Verkehrsfraktionen mit aller Härte eingesetzt. In Berlin glauben sich Verfechter des Verbrennungsmotors wie Parias behandelt. Ihre Metropole erscheint ihnen als "Bullerbü des Stillstandes". Die Straßen seien "zugepollert", die Ampelphasen darauf angelegt, Infarkte und Thrombosen zu erzeugen. Moderne Verkehrspolitiker sind zu Blechlawinenräumern geworden.

Doch mit der Umrüstung des Personennahverkehrs allein ist es nicht getan. Die Anbieter von Bus und Bahn tüfteln bereits an Eincheckservices: an Apps, die den jeweils günstigsten Tarif kundenfreundlich herausklamüsern. Auf der Strecke bleiben derweil die Strecken.

Anstatt den europäischen Zugverkehr auf neue Schienen zu stellen, wird die Ächtung des Städtefluges zum Imperativ umgebogen: Sei moralisch! Reise mit der Bahn! Anstatt den Fern- in einen Weltnahverkehr umzuwidmen, Trassen zu bauen für ein Hochgeschwindigkeitsgeschehen, spuckt man Bewohner der Industrieländer auf rostfarbene Bahnsteige aus. Und überlässt sie dort, in die Betrachtung von Silberdisteln auf dem Bahnschotter versunken, sich selbst. Für Heine bliebe wahrhaft genug Zeit "zu töten" übrig. (Ronald Pohl, 1.9.2021)