Eine nichtregistrierte Bewegung definiert gern, was "russisch" ist und was nicht.

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Als die russische Supermarktkette Vkusville Anfang des Sommers im Rahmen einer Werbekampagne in sozialen Netzwerken auch gleichgeschlechtliche Eltern porträtierte, schien das ein Durchbruch im konservativ geprägten Russland. Doch das Experiment ging nach hinten los.

Eine Hasskampagne, losgetreten von einer Bewegung, die sich "Männerstaat" nennt, und unterstützt von einer Reihe Kreml-naher Medien wie RT, ließ Vkusville schnell einknicken. Das Unternehmen, das sich selbst als ökologisch und fortschrittlich gibt, löschte den Eintrag nicht nur, sondern verfasste eine Entschuldigung, die unter anderem Firmengründer Andrej Kriwenko unterschrieb.

Familie musste auswandern

Die Fotostory über die reine Frauenfamilie habe "die Gefühle einer großen Zahl unserer Käufer, Mitarbeiter, Partner und Zulieferer verletzt", heißt es in der Erklärung. Eigenen Mitarbeitern warf die Konzernführung "Unprofessionalismus" vor.

Die Folgen: Der Chef der Reklamekampagne, Roman Poljakow, kündigte bei Vkusville. Die in der Werbung gezeigte Familie musste wegen der Hasskampagne sogar Russland verlassen.

Zur Hetzjagd aufgerufen

Und der "Männerstaat" geriet in Euphorie ob seiner eigenen Macht. Offiziell ist die Bewegung, die offen patriarchalische und nationalistische Werte vertritt, in Russland nicht registriert. Ihr Gründer Wladislaw Posdnjakow ist ein ehemaliger Fitnesstrainer aus der Wolga-Region Saratow.

Größere Popularität erreichte er 2018, als er während der Fußball-WM zur Hetzjagd auf Russinnen aufrief, die mit Ausländern flirteten. Er ließ sich von seinen Anhängern Fotos der jungen Frauen schicken, die er im Internet mit entsprechenden Beschimpfungen veröffentlichte.

Das brachte ihm damals sogar ein Extremismusverfahren und eine zweijährige Bewährungsstrafe ein. Doch dann dekriminalisierte der Kreml den entsprechenden Gesetzesartikel, und die Strafe gegen Posdnjakow wurde aufgehoben. Unbestätigten Berichten zufolge hat er Russland verlassen.

Gegen Afroamerikaner

Im Ru-Net ist er jedoch weiter aktiv. Und nach der erfolgreichen Attacke gegen Vkusville hat er zwei weitere Unternehmen ins Visier genommen. Zunächst griff er den aus Sibirien stammenden Sushi-Lieferservice Jobidojobi an. Das Unternehmen hatte in seiner Reklamekampagne einen schwarzen Mann zwischen drei weißen Frauen porträtiert.

"Ist es in Ihrer Realität schon Norm, dass ein Afroamerikaner im Zentrum sitzt und um ihn herum kreisen drei weiße Slawinnen", echauffierte sich Posdnjakow und forderte seine Anhänger zu einer erneuten Kampagne auf. Tausende Fake-Bestellungen gingen daraufhin bei Jobidojobi ein, die Website des Unternehmens wurde durch eine DDoS-Attacke lahmgelegt.

Unternehmen entschuldigte sich

Zudem veröffentlichte Posdnjakow sowohl die Telefonnummer von Firmenchef Konstantin Simen als auch Links zu den sozialen Netzwerken der drei weiblichen Models, die auf dem Foto posierten. Bei allen Beteiligten gingen daraufhin Drohungen und Beschimpfungen ein.

Tatsächlich erreichte der "Männerstaat" erneut sein Ziel: Jobidojobi löschte die Reklame und entschuldigte sich dafür, dass "wir die Öffentlichkeit mit unseren Fotos vor den Kopf gestoßen haben".

Problematischer Regenbogen

Weil es so schön war, versuchte es Posdnjakow bei der Sushi-Restaurantkette Tanuki gleich noch einmal. Wieder war ein Schwarzer Auslöser des Ärgers. Darüber hinaus entdeckte der "Männerstaat" auf den Werbefotos noch einen Regenbogen, den er als Reklame für LGBTIQ-Personen wertete.

Posdnjakow drohte damit, die Arbeit von Tanuki lahmzulegen, wenn das Restaurant die Fotos nicht löscht und sich entschuldigt "vor der Russischen Nation dafür, dass es ihr fremde Werte aufzwingt". Auch bei Tanuki brach anschließend die Website zusammen, und die Kette musste wegen zahlreicher Fake-Bestellungen auf Vorkasse umstellen. Bombendrohungen gingen bei zahlreichen Restaurants ein.

Zeitweise forderte Posdnjakow in dem Streit sogar Russlands größtes Internetkonsortium Yandex heraus, indem er dessen Essenlieferservice aufforderte, keine Bestellungen von Tanuki mehr abzuwickeln. Aufgrund der größeren Netzgewalt von Yandex lenkte er hier allerdings schnell ein und erklärte seinen Anhängern, dass Yandex keine Konfliktpartei sei und nicht in Mitleidenschaft gezogen werden dürfe.

Unternehmer in der Offensive

Im Gegensatz zu den vorherigen Angriffszielen hat Tanuki den Kampf angenommen. Da das Unternehmen gegen kein Gesetz verstoßen habe, werde es die Fotos weder löschen noch sich dafür entschuldigen, sagte ein Firmensprecher.

Mehr noch: In einer Erklärung forderte Tanuki den Gründer des Messengers Telegram, Pawel Durow, auf, den "mittelalterlichen Kanal" Posdnjakows zu löschen, und die russische Medienaufsichtsbehörde, ihn zu blockieren. Kurios: In der Form ähnelte die Erklärung dabei der obligatorischen Präambel, die alle Medien, die zu "ausländischen Agenten" erklärt worden sind, neuerdings ihren Meldungen voranstellen müssen.

Russen-Witz

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, auf den Skandal angesprochen, erklärte, es sei nicht Aufgabe des Kremls den Konflikt zu kommentieren. Wenn der "Männerstaat" gegen Gesetze verstoßen haben sollte, müssten die Sicherheitsorgane darauf reagieren, sagte er ausweichend. Das haben die Behörden bislang nicht getan.

Stattdessen haben sie auf eine Beschwerde des "Männerstaats" gegen den Stand-up-Komiker Idrak Mirsalisadse reagiert: Mirsalisadse, ein gebürtiger Aserbaidschaner mit belarussischem Pass, hatte im Frühjahr bei einer Comedy-Sendung im Internet Scherze über seine Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche in Russland gemacht und dabei den alltäglichen Fremdenhass verlacht. In dem Zusammenhang machte er – basierend auf einer bepinkelten Matratze – auch einen sehr schlechten Witz über Russen.

Ausweisung gefordert

Die Sendung fiel aber erst irgendwann im Sommer dem ultrakonservativen Fernsehsender Zargrad und daraufhin auch dem Kreml-Hofpropagandisten Wladimir Solowjow auf. Diese starteten eine Kampagne gegen Mirsalisadse wegen angeblicher Russophobie. An der Kampagne beteiligte sich auch der "Männerstaat", dessen Mitglieder das russische Innenministerium zur Ausweisung des Komikers aufforderten. In der Zwischenzeit hatte die Staatsanwaltschaft schon ein Verfahren wegen "rassistischer Hetze" gegen Mirsalisadse eingeleitet. Er bekam zunächst eine Ordnungshaft von zehn Tagen aufgebrummt.

Mirsalisadse hat sich inzwischen für seinen Witz entschuldigt. Anfang der Woche hat das Innenministerium den Komiker trotzdem als "Gefahr für die nationale Sicherheit" eingestuft, abgeschoben und ihn als "unerwünschte Person" mit einem Einreiseverbot belegt.

Offenbar hätten nun Staat und Polizei auch das Monopol zu entscheiden, "was witzig ist und was nicht", kommentierte der Publizist Anton Orech die Entscheidung. "Wenn man Humor verbietet, selbst schlechten, dann werden die größten Dummheiten nur mit ernstem Gesicht begangen. Und diese Dummheiten werden dann immer öfter begangen", urteilte er. (André Ballin aus Moskau, 1.9.2021)