Die Taliban-Spezialeinheit Badri 313 stellte sich am Dienstag bereitwillig für ein Selfie am Flughafen von Kabul zur Verfügung.

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Der letzte US-Soldat am Rollfeld.

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Jeder Krieg hat sie, die Bilder, die sich über kurz oder lang ins kollektive Gedächtnis einprägen. Jener, den die USA am 7. Oktober 2001 als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September begannen – und der nun mit dem Abzug aus Afghanistan mit einer Niederlage zu Ende ging –, fand nun in einem grünstichigen Bild seinen Schlusspunkt. Es wurde, offenbar inszeniert, durch ein Nachtsichtgerät aufgenommen und zeigt Generalmajor Chris Donahue, der in Kabul als letzter US-Soldat ein Militärflugzeug besteigt. Ein Fuß ist schon auf der Rampe – quasi auf US-Territorium –, der andere löst sich vom Asphalt der Piste auf afghanischem Boden.

Propaganda ist das Foto für beide Seiten: Während die USA in Generalmajor Donahue einen einsamen Helden sehen, ist er für die Taliban, die in Afghanistan Mitte August die Macht übernommen haben, ein Symbol der Schmach, der Niederlage. Den Abflug der letzten US-Militärmaschine – eine Minute vor Dienstagmitternacht (Ortszeit), 24 Stunden vor dem offiziellen Fristende für den Abzug – feierten sie mit Schüssen in die Luft und Siegesgeschrei. Nach fast 20 Jahren sind erstmals offiziell keine US-Soldaten in Afghanistan.

Taliban: Historischer Sieg

Der Mittwoch, der erste Tag danach, verlief in Kabul dann vergleichsweise ruhig – wahrscheinlich um einiges ruhiger, als wenn die USA ihre Soldaten noch ausfliegen lassen würden. Washington hatte den Abzug stillschweigend beschleunigt, um der laut Geheimdienstinformationen extrem hohen Gefahr eines Terroranschlags in den letzten Stunden des 31. August zu begegnen. Die knapp 200 Toten beim Doppelanschlag vom vergangenen Donnerstag sollten die letzten bleiben.

Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid sprach von einem historischen Sieg, der "uns allen gehört", doch gleichzeitig waren die alten neuen Machthaber Afghanistans demonstrativ darum bemüht, die Gesprächskanäle zu den USA und anderen westlichen Staaten offen zu halten. In der Terrororganisation IS-K hat man offenbar einen gemeinsamen Feind.

Nach "Wegen für Gespräche mit den Taliban" suchen nach Angaben der deutschen Kanzlerin Angela Merkel auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und die Niederlande. Gemeinsam wolle man eine Präsenz Europas in Kabul aufbauen, die aber nicht einer diplomatischen Anerkennung des Taliban-Regimes gleichkomme.

Kämpfe in Provinz Panjshir

Einen Feind im Inneren haben die Taliban in Panjshir, der nunmehr einzigen von 34 Provinzen des Landes, die noch nicht unter Kontrolle der Islamisten steht. Beim Versuch, in diese gebirgige Region vorzudringen, wurden die Taliban zu Wochenbeginn unter Beschuss genommen, es gab Tote und Verletzte. Unter den Anführern der Kämpfer in Panjshir ist Ahmad Massoud, Sohn des 2001 ermordeten legendären Anführers der Mujahedin Ahmad Shah Massoud.

Panjshir konnte von den Taliban auch während ihrer ersten Herrschaft 1996–2001 nicht erobert werden. Bedingungslose Kämpfe sind jetzt aber nicht mehr im Interesse beider Seiten, man bemühe sich um eine "Verhandlungslösung", heißt es. Wie diese aussehen könnte, ist aber völlig unklar.

Auf Spezialeinheit angewiesen

In Kabul selbst besetzte unmittelbar nach dem Abzug der US-Truppen die Taliban-Spezialeinheit Badri 313 den internationalen Flughafen. Westliche Staaten sind nun bei ihren Evakuierungsbemühungen auf sie – und somit allein auf die Taliban – angewiesen. Zumindest offiziell gilt die Zusage, dass Ausreisen nach wie vor gewährt werden. Derzeit kann der zivile Teil des beschädigten Flughafens allerdings keine Flüge abfertigen. Meist bleibt also bis auf weiteres nur der Landweg, um Afghanistan zu verlassen.

Die Vereinten Nationen wollen aber ihren humanitären Einsatz möglichst ohne Unterbrechungen fortsetzen. Ein Versorgungsflug der Weltgesundheitsorganisation (WHO) landete Montagabend im nordafghanischen Mazar-e Sharif, zwei weitere Flüge seien in den nächsten Tagen geplant, bestätigte eine WHO-Sprecherin am Dienstag in Genf. Zudem wolle auch das Uno-Welternährungsprogramm WFP eine humanitäre Luftbrücke aufrechterhalten, sagte eine weitere Uno-Sprecherin – und zwar auch mit Zielflughafen Kabul, wo die Versorgungslogistik einfacher zu bewerkstelligen sein dürfte, um sowohl Hilfsgüter ins Land zu bringen als auch Menschen auszufliegen.

UNHCR warnt vor Katastrophe

Die humanitäre Lage in Afghanistan ist in der Tat besorgniserregend. Nach Einschätzungen von UNHCR-Chef Filippo Grandi könnten bis Jahresende 500.000 der 39 Millionen Afghaninnen und Afghanen das Land zu verlassen versuchen, zumeist auf dem Landweg. In den Nachbarstaaten Iran und Pakistan halten sich bereits 2,2 Millionen Landsleute auf. Diese Länder rief Grandi auf, die Grenzen offen zu halten. Gleichzeitig sollten andere Staaten mehr Hilfe als bisher anbieten. "Wir dürfen uns nicht abwenden, eine noch größere humanitäre Krise beginnt gerade erst", warnte der UNHCR-Chef. (Gianluca Wallisch, 31.8.2021)