Endlich wieder Streamingwetter.

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Sehe ich das Wort "bingen", denke ich immer zuerst an Hildegard von Bingen und bekomme ein schlechtes Gewissen. Eines meiner Lockdown-Projekte bestand nämlich darin, musikalische Bildungslücken zu schließen und mich mit voller Aufmerksamkeit und ohne Ablenkung durch die Gesamtwerke von Künstlerinnen und Künstlern zu hören, von denen ich bis dato nur kannte, was man halt so kennt.

Kate Bush habe ich noch geschafft, in der Mitte des Œuvres der Cocteau Twins wurde es schon etwas mühsam, bei Björk und Hildegard von Bingen als Komponistin blieb es bei zarten Versuchen. Seltsame Liste auch.

Jetzt ist der Zug sowieso abgefahren, nicht weil aktuell kein Lockdown ist, sondern weil es jetzt endlich wieder ein paar gute Sachen (Empfehlung: Die Professorin) auf Netflix und das passende Wetter gibt, um zu bingen, sprich "binschn": sich staffelweise Serien reinzuziehen, der liebste Ausdauersport von Millennials wie mir.

Hildegard wird aktuell also nur als Kräutertee konsumiert, die einzige Musik, für die ich mich – abgerichtet wie Pawlows Wauzi – interessiere, ist der "Tatam"-Sound, der das große Netflix-N begleitet, wann immer es am Bildschirm erscheint.

Boomer haben Glück

Binge-Watching ist eines der pop- und konsumkulturellen Phänomene, an dem sich die Generationengeister scheiden. Während zwar auch die Babyboomer das Format Serie schätzen, ist die Form des Binge-Konsumierens via Streamingdienste eher bei Millennials und der Gen Z beliebt. Sagt jetzt nicht nur der Hausverstand, es gibt auch Studien. Die Boomer haben wieder mal Glück, dass sich ihnen der Reiz des obsessiven Marathonschauens nicht erschließt: Beim Bingen produziert das Hirn Dopamin und sorgt für ein High. Die Seriensucht, der mantraartig wiederholte Satz "Ich schau eh nur noch eine Folge", bis die Staffel vorbei ist, ist also eigentlich eine Sucht nach Dopamin. Ist der Rausch dann vorbei, folgt der Fall – man fühlt sich nach so einer Session ausgelaugt bis depressiv. Wie es aber so mit Drogen ist, würde man es jederzeit wieder tun.

Bleibt nur die Frage, warum sich das High bei meinen Versuchen, Hildegard von Bingen zu bingen, nicht eingestellt hat. (Amira Ben Saoud, 1.9.2021)