Man darf in der Wohnung der Kanzlerin die Schuhe anlassen. "Nicht ausziehen, einfach hereinkommen. Seien Sie herzlich willkommen!", sagt die Hausherrin und bittet ins helle Wohnzimmer. Sie selbst serviert den Kaffee und Pralinen in halb hohen Pumps, schwarzer Hose und rotem Blazer, um den Hals eine Bernsteinkette. "Normalerweise laufe ich zu Hause nicht so herum", sagt Ursula Wanecki, "aber ich hab heute Abend noch einen Kanzlerinnentermin, und meine Friseurin war schon da." Das Ergebnis ist verblüffend. Da steht, in einem Reihenhaus in Attendorn (Nordrhein-Westfalen), tatsächlich Angela Merkel. Und jetzt fragt sie auch noch, ob man Wasser zum Kaffee haben möchte. Natürlich ist es nicht wirklich Merkel, aber Ursula Wanecki schaut ihr unglaublich ähnlich. Ein bisschen größer ist sie als die deutsche Langzeitkanzlerin. Und auch ein bisschen schlanker. "Frau Merkel hat ein klein wenig zugenommen", sagt Wanecki diplomatisch.

Sehr viel Kanzlerin: Ursula Wanecki sitzt im Strandkorb. In der Hand hält sie ein Foto der echten Angela Merkel, die wieder eine Doppelgängerin aus dem 3D-Drucker betrachtet.
Foto: Birgit Baumann

Man kommt sich ein bisschen unverschämt vor, die Gastgeberin so zu mustern. Aber sie ist es gewohnt. Lidstrich, Haare – alles stimmt. "Die Frisur hatte ich schon immer so. Ich war die Erste, das hat sich Merkel von mir abgeschaut", sagt Wanecki und muss lachen. Zehn Jahre lang war die gebürtige Polin als Kanzlerinnen-Double unterwegs. Kurz vor der Bundestagswahl wird sie 65 Jahre alt, Merkel und sie sind beide Jahrgang 1954. "Sie geht in Rente und ich auch", sagte Wanecki. Damit meint sie nicht nur ihren Job als Büroangestellte, sondern auch das Doppelleben. Im Moment ist sie ganz froh darüber. Denn: "Es war ein unglaubliches Lebensabenteuer. Aber es war auch oft recht anstrengend."

Der Sari passte nicht

Begonnen hat alles im Karneval 2012. Dass sie eine Ähnlichkeit mit Merkel habe, war Wanecki zuvor schon oft gesagt worden. "Manchmal baten mich Leute auf einer Hochzeit auf Fotos, damit ‚Merkel‘ auch drauf ist", erinnert sie sich. Doch zur Vereidigung kommt es in besagtem Jahr im Karneval. Wanecki will sich in der Firma nicht zum wiederholten Mal als Piratenbraut verkleiden. Also bittet sie eine Freundin, ihr einen Sari zu besorgen. Dieser aber ist nicht aus Seide, sondern aus grauslichem Polyester. Wanecki mag ihn nicht anlegen. Was tun? Wie verkleiden? Sie kauft in Attendorn eine schwarze Hose und einen grünen Blazer – einen, wie ihn später dann auch mal Merkel tragen wird. Dazu bastelt sie sich ein Namensschild, auf dem "Bundeskanzlerin" steht. Fertig ist die Merkel.

"Hallo, Frau Bundeskanzlerin", wird sie beim Bäcker ganz selbstverständlich gegrüßt. Das ist der Anfang, und Wanecki merkt schon damals: "Ich bin eigentlich gar nicht verkleidet." Natürlich kommt später die berühmte Merkel-Raute dazu, und Wanecki schaut sich einige Gesten ab. "Am Anfang habe ich zu viele davon übernommen", sagt sie, "das war ein bisschen lächerlich." Sie bittet Familie und Freunde, sie zu korrigieren, hat den Dreh aber bald selbst heraußen.

Oma im Fernsehen

"Ich bin schon Merkel, wenn ich die Wohnung verlasse, aber wirklich groß verstellen muss ich mich nicht. Wir sind uns ähnlich", meint sie. Wenn Merkel im Fernsehen zu sehen ist, ruft ihr Enkel schon mal: "Da ist Oma!" Wie Merkel hat auch Wanecki hinter dem Eisernen Vorhang gelebt. 1985 kam sie über das niedersächsische Grenzdurchgangslager Friedland nach Deutschland und lernte dort schnell: "In Deutschland kommst du nur mit viel Disziplin weiter." Für Wanecki war das kein Problem.

Sie merkt auch in ihrem Merkel-Job schnell, dass sie lernen und Erfahrungen sammeln muss. "Am Anfang war ich naiv und habe mir viel ansagen lassen", erinnert sie sich. Doch je mehr Anfragen über ihre Agentur eintrudeln, desto selbstbewusster wird sie. Denn: "Ich wollte Merkel nie lächerlich machen oder herabwürdigen."

Dubiose Anfragen hätte es schon gegeben. Merkel in Dessous, Merkel im Swinger-Club. Wanecki schüttelt sich. Das wäre schon aufgrund ihrer katholischen Erziehung in Polen nicht möglich gewesen. Und auch sonst nicht. Auch Angebote von russischen TV-Sendern nahm sie nicht an. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verübelt sie bis heute, dass er 2007 in Sotschi seinen Labrador in den Raum ließ, obwohl sich Merkel in Gegenwart von Hunden nicht wohlfühlt.

Magazin für Lesben

"Ich mag Merkel. Sie ist eine großartige Demokratin, sie kämpft gegen Hass und Hetze in Europa. Ich bewundere auch, wie sie sich in der Männerwelt durchgesetzt hat", sagt Wanecki. Den Satz "Wir schaffen das" hält sie für einen der wichtigsten in Merkels Kanzlerschaft. Lange hat Wanecki überlegt, ob sie den Auftrag des Berliner Lesbenmagazins Straigth annehmen soll. Gezeigt werden sollte "Merkel", die von einer Frau umarmt wird. Wanecki sagte zu, um zu zeigen "dass Homosexualität normal ist".

Wanecki ist in den vergangenen Jahren viel gereist. Sie war in Wien, wo sie gemeinsam Doubles von Wladimir Putin, Greta Thunberg und Donald Trump auftrat. Sie flog während der Eurokrise nach Griechenland zu einer Kunstaktion. Ihre Aufgabe dort: aus einem Fass Oliven zu schöpfen und nur einen einzigen Satz "Das ist das griechische Gold, und damit sind die griechischen Schulden getilgt" zu sagen.

Lieber Blumenmuster

Vor ihren Auftritten geht es hinüber ins Arbeitszimmer. Dort steht ein hölzerner Schrank mit all den bunten Blazern, aus denen Wanecki auswählt. Sie selbst hat einen anderen Stil, trägt persönlich gern Blumenmuster und Röcke, auch ihre Schuhabsätze sind höher als die der Bundeskanzlerin.

Wie die Kanzlerin hat auch Wanecki jede Menge Blazer.

Foto: Birgit Baumann

Es ist nicht schwer zu erraten, welcher einer der großen Wünsche Waneckis ist. "Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass mich die Bundeskanzlerin nach ihrem Rückzug zum Kaffee einlädt", sagt sie, "aber natürlich würde ich sie wahnsinnig gern einmal treffen." Einmal war sie ihr zumindest schon sehr nahe. 2013 kam Merkel im Bundestagswahlkampf nach Attendorn, Wanecki kämpfte sich bis in die erste Reihe vor, trug aber, um nicht erkannt zu werden, ein Kopftuch. Sie habe nicht gewollt, dass es Wirbel gebe. Denn: "Es war ja Frau Merkels Veranstaltung."

Merkel hingegen darf auch bei Wanecki in der Wohnung eine Rolle spielen. In ihrem Arbeitszimmer steht ein Autogrammfoto, auch im Wohnzimmer sind viele Bilder der Kanzlerin zu sehen. Das Prunkstück liegt auf dem Wohnzimmertisch: ein Bildband des Fotografen Daniel Biskup über Merkel, den die Kanzlerin für Wanecki signiert hat. So etwas macht die Merkel normalerweise nicht, ein CDU-Politiker hat es für das Double eingefädelt und auch übermittelt, dass Merkel das Treiben ihres Alter Egos durchaus wohlgesinnt verfolgt. Und was würde Wanecki nun sagen, wenn sie Merkel tatsächlich treffen könnte? Da muss Wanecki nicht lange überlegen: "Frau Bundeskanzlerin, es ist mir eine Ehre. Danke für die Bereicherung in meinem Leben." (Birgit Baumann, 5.9.2021)