Für Taiwan ist es keine leichte Zeit. Seit Wochen nimmt die Frequenz chinesischer Manöver in der Nähe der Insel zu; stets höher wird die Schlagzahl, in der Peking zur "Wiedervereinigung" ruft. Immerhin sieht die Volksrepublik die demokratische Insel als abtrünnige Provinz, die es "rückzuführen" gelte. Seltener fällt mittlerweile hingegen das Wort von "friedlicher Wiedervereinigung" – und immer deutlicher macht Peking, dass man im Ernstfall wohl vor Gewalt nicht mehr zurückschrecken würde.

Schon jetzt bedient sich China "hybrider Kriegsführung" gegen die Regierung in Taipeh, klagt Taiwans Außenminister Joseph Wu im STANDARD-Interview. Er wünscht sich auch von den Europäern mehr Unterstützung. Immerhin gehe es um gemeinsame Werte.

STANDARD: Aus Peking kommen immer härtere Worte, in der Taiwanstraße gibt es immer öfter Militärübungen. Steigt der Druck auf Ihre Regierung?

Wu: Die Debatte ist jedenfalls deutlich. China spricht darüber schon seit Jahrzehnten, es steht auch in seiner Verfassung, dass Taiwan ein integraler Teil der Volksrepublik ist. Aber seit Jänner 2019 scheinen sie diese Position zu verstärken. Nicht nur rhetorisch, auch durch militärische Vorbereitungen. Eine Runde militärischer Übungen nach der anderen rund um Taiwan – in der Luft, im Meer. Sie greifen auch zu hybrider Kriegsführung – da geht es um Infiltration, Einflussoperationen in Taiwan und Desinformationskampagnen. Das ist für uns sehr bedrohlich. Aber die Situation, wie wir sie derzeit sehen, ist, dass es noch keine unmittelbare Gefahr eines militärischen Angriffs gegen Taiwan gibt.

Dass der Rückzug der USA aus Afghanistan ein Signal für Taiwan ist, glaubt Außenminister Joseph Wu nicht.

Foto: Außenministerium

STANDARD: Steigt nicht die Gefahr einer militärischen Fehlkalkulation?

Wu: Jeder Entscheidungsträger, der logisch denkt, sollte keinen Krieg beginnen – nicht gegen Taiwan und auch gegen sonst niemanden. Krieg ist im Interesse von niemandem. Krieg wird Zerstörung bringen. Diese Einschätzung teilen viele Akteure. Die USA, Japan, Australien – sie betonen die Notwendigkeit von Frieden und Stabilität in der Taiwanstraße. Aber das chinesische politische System ist so abgeschlossen. Dadurch ist es für Demokratien so schwierig zu verstehen, wie die Entscheidungen dort fallen. China führt interne Unterdrückungskampagnen gegen Xinjiang und Tibet durch, geht mit eiserner Faust in Hongkong vor, baut Stellungen im Ost- und im Südchinesischen Meer aus. Und die Geschichte lehrt uns, dass autoritäre Staaten Zuflucht in außenpolitischen Konflikten suchen, wenn sie im Inneren unter Druck stehen.

STANDARD: Unter Donald Trump galt "America first", aber seine Regierung trat als Unterstützer Taiwans auf. Joe Biden versprach, die USA in die Welt zurückzuführen, setzte aber auch völlig andere Signale – zuletzt vor allem den Rückzug aus Afghanistan. Macht Ihnen das Sorge?

Wu: Nein. Die USA haben betont, dass der strategische Sinn des Afghanistan-Rückzugs ist, sich stärker auf die Herausforderung durch China zu konzentrieren. Wenn das so ist, wird es auf lange Sicht zum Vorteil von Taiwan sein. Hört man Entscheidungsträgern zu – vom Präsidenten über den Außenminister bis zu Sicherheitsberatern und hohen Beamten –, dann haben sie immer und immer wieder ihre Verpflichtungen auf Basis des Taiwan Relations Act und der Sechs Zusicherungen betont. Wir haben keinerlei Sorge in Sachen US-Einsatz für Taiwan.

STANDARD: Biden spricht auch gern vom Systemkonflikt zwischen liberalen Demokratien und autoritären Systemen – und die chinesische Regierung macht das umgekehrt auch.

Wu: Ich glaube, was wir in Taiwan sehen, passt zu dieser Ansicht. Es ist ähnlich wie das, was andere Demokratien, etwa in Europa und in Ostasien, sehen. Es gibt einen ernsten Kampf zwischen Demokratien und dem Autoritarismus. Und der Autoritarismus, wie ihn China repräsentiert, baut seinen Einfluss überall aus und versucht, sich vorzutasten. In Europa sieht man, wie die Chinesen mit der Belt and Road Initiative (der "neuen Seidenstraße", Anm.) auftauchen. Ich muss sagen, einige Staaten scheinen stärker mit den Interessen Chinas auf Linie zu sein als mit jenen der EU. Taiwan ist eine Demokratie, wir wollen mit anderen Demokratien kooperieren und uns dem Ausbau des Autoritarismus entgegenstellen.

Chinesische Aufrufe zur Vereinigung und Übungen des Militärs werfen zunehmend Schatten auf Taiwan.
Foto: EPA / Ritchie B. Tongo

STANDARD: Sollen EU-Staaten und die EU selbst in dieser Hinsicht mehr tun?

Wu: Das glaube ich schon. Aber ich habe auch den Eindruck, dass die EU-Staaten schon jetzt dem schurkischen Verhalten Chinas mehr Aufmerksamkeit schenken. Eine Sache muss ich aber noch spezifisch erwähnen: Litauen ist für seine Entscheidung, ein "Taiwanese Representative Office" zu eröffnen, unter Druck gekommen. Das Land ist nun unter hybridem gemeinsamem Druck von Staaten wie China, Russland und Belarus. Ich finde, die EU und die Nato sollten konkretere Schritte setzen, um ihr eigenes Mitgliedsland zu unterstützen. Wenn China oder Russland sehen, dass ein Mitglied schikaniert wird, ohne dass es eine Reaktion gibt, werden diese Staaten das als Antrieb sehen, mehr zu tun.

STANDARD: Könnte die harte Reaktion andere EU-Staaten nicht erst recht einschüchtern?

Wu: Bisher sehe ich das nicht. Europäische Vertreter sagen uns – in einer stillen Art –, dass sie versuchen, Wege zu finden, Litauen zu helfen. Wir erwarten hier mehr Stimmen in Europa, die dagegen auftreten, dass ein Mitgliedsland bedroht wird.

STANDARD: Corona zeigt die Bedeutung internationaler Organisationen – und was es für Taiwan heißt, nicht in der WHO zu sein.

Wu: Taiwan ist 2003 sehr hart von Sars getroffen worden. Vorher, 1997, wurde Taiwan vom Enterovirus angegriffen. Wir haben die WHO um Hilfe gebeten – und sie kam nicht. Das war eine sehr harte Lektion für uns. Daher haben wir versucht, unsere eigene Verteidigung gegen Pandemien auszubauen. Aber wir sind ein Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Wir haben so wie alle anderen das Recht auf die aktuellsten Informationen der WHO. Und unsere Expertinnen und Experten haben das Recht auf die aktuellsten Informationen. Letztes Jahr hat die internationale Gemeinschaft gesehen, dass es Taiwan geschafft hat, gegen die Pandemie anzukämpfen. Und auch, dass wir anderen helfen – mit mehr als 50 Millionen Masken und Schutzausrüstung. (Manuel Escher, 2.9.2021)