In Wien wurde ein Mann beschimpft, weil er eine Kippa trug. Das ist nur einer von 500 antisemitischen Vorfällen, die der IKG im ersten Halbjahr 2021 gemeldet wurden.

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Am 14. Mai 2021 wird eine Familie in einem Park mit Steinen beworfen – aufgrund ihrer Kleidung sind die Familienmitglieder als jüdisch erkennbar. Nur fünf Tage später werden als jüdisch erkennbare Mädchen von einer Gruppe anderer Kinder bedrängt, geschubst und antisemitisch beschimpft. Und am 28. Mai wird ein Mann, der eine Kippa trägt, von Jugendlichen, die im E-Scooter an ihm vorbeifahren, mit "Scheiß Jude!" beschimpft.

Das sind nur drei von insgesamt 562 antisemitischen Vorfällen, die der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) im ersten Halbjahr 2021 gemeldet wurden. Und das sind so viele wie noch nie: Seit 20 Jahren erfasst die IKG derartige Vorfälle, im Jahr 2020 etwa gab es im gesamten Jahr nur knapp mehr gemeldete Fälle als in den ersten sechs Monaten dieses Jahres.

Oskar Deutsch, Präsident der IKG, ist ob dieser Entwicklung besorgt: "Auch wenn die Zahlen auf den ersten Blick katastrophal wirken, spiegeln sie die Realität wider. Wir haben es hier mit einer Verdoppelung der gemeldeten Fälle zu tun." Außerdem sehe man, dass antisemitischen Worten auch Taten folgen würden, "deshalb müssen wir alle, egal ob auf Facebook, dem Fußballplatz oder in der Straßenbahn sofort agieren, wenn wir Antisemitismus wahrnehmen".

Corona-Demos als Antrieb für Antisemitismus

Die IKG sieht für diese Entwicklung zwei Gründe. Erstens: Die Spannungen in Israel, die auch in Österreich spürbar sind. Das führte "wie auch schon mehrmals in der Vergangenheit zu einem teils explosionsartigen Anstieg antisemitischer Vorfälle weltweit". Doch: Qualität und Quantität seien hierzulande neu.

Der zweite Grund sind die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen – mehr als ein Viertel der gemeldeten Fälle hatte in irgendeiner Form Bezug zum Coronavirus. Die Impfkampagne im Frühling, so die Wahrnehmung der IKG, gab den "schon vom letzten Jahr bekannten Akteurinnen und Akteuren wieder Auftrieb" und damit auch Verschwörungsmythen und Shoah-Relativierungen. Bekanntermaßen skandieren einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen immer wieder antisemitische Parolen, außerdem wurden Zitate von Sophie Scholl, die als junge Frau von den Nazis ermordet wurde, auf Flyer gedruckt, in manchen Fällen auch Davidsterne auf der Kleidung angebracht. Schon mehrmals musste die IKG im Vorfeld der Demos Warnungen an ihre Mitglieder ausgeben.

Innenminister sieht Radikalisierung

Auch Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) meldete sich dazu am Donnerstag zu Wort: "Die Corona-Pandemie hat zu einer Radikalisierung an den Rändern unserer Gesellschaft geführt. Nicht selten vereinigen sich seit Beginn der Corona-Pandemie krude Verschwörungstheorien mit antisemitische Einstellungen und manifestieren sich zu einer demokratiefeindlichen Haltung", schreibt der Innenminister in einem Statement an den STANDARD. Derartiges Verhalten habe in Österreich keinen Platz, "ist nicht tolerierbar und wird mit allen Mitteln des Rechtsstaates verfolgt".

Man habe in den letzten Monaten "zahlreiche Maßnahmen getroffen, um die Sicherheit der in Österreich lebenden Jüdinnen und Juden zu gewährleisten". In dem Zusammenhang verweist man im Innenministerium etwa auf Informationsveranstaltungen zur Aufklärung über Verschwörungstheorien, auf eine Förderung für die Sicherheit der jüdischen Gemeinde in ganz Österreich (IRG) in der Höhe von 700.000 Euro und darauf, dass die Polizei seit einigen Monaten Hassverbrechen gezielt erfasst. Europaministerin Karoline Edtstadler betont die zu Jahresbeginn präsentierte nationale Strategie gegen Antisemitismus – einige der dortigen Maßnahmen seien bereits umgesetzt. So wurde etwa im März die Gründung eines Zentrums für Antisemitismusforschung beschlossen.

Opposition für rasche Maßnahmen

Auf die komplette Umsetzung eben dieser Strategie pocht der grüne Koalitionspartner: "Insbesondere militante Impfgegnerinnen und Impfgegner bemühen immer wieder antisemitische Erzählungen und werden dabei auch noch von Politikerinnen und Politikern unterstützt. Ja, diese sind mit Maßnahmen schwer zu erreichen. Umso wichtiger ist es, dass das zuständige Bundeskanzleramt sofort mit spezifisch entwickelten Maßnahmen beginnt", lässt Eva Blimlinger, grüne Kultursprecherin via Aussendung an Edtstadler ausrichten.

Von den Neos kommt ebenfalls die Forderung nach konkreten Maßnahmen: "Bei Verdacht von Straftaten muss effizient ermittelt werden und in Deradikalisierungsmaßnahmen muss mehr Engagement fließen. Es braucht eine umfassende Strategie gegen Rechtsextremismus, inklusive Ausstiegsprogrammen aus der rechtsextremen Szene", wird die Neos-Mandatarin Stefanie Krisper in einer Aussendung zitiert. Auch in der SPÖ sieht man Handlungsbedarf: "Wir müssen endlich ins Tun kommen und Antisemitismus wirksam und effektiv bekämpfen", sagt die SPÖ-Sprecherin für Erinnerungskultur, Sabine Schatz. Die FPÖ spricht von importiertem Antisemitismus.

Acht körperliche Angriffe in einem halben Jahr

Von den 562 Fällen, die gemeldet wurden, wurden die allermeisten (331) als verletzendes Verhalten eingestuft. 154-mal waren es antisemitische Massenzuschriften, die bei der Meldestelle eintrafen. 58 Sachbeschädigungen wurden gezählt, dazu kommen elf Bedrohungen und acht körperliche Angriffe.

In drei Vierteln der Fälle konnte dem Täter oder der Täterin ein ideologischer Hintergrund zugeordnet werden. 244-mal war das eine rechte Gesinnung, 147-mal eine linke, und in 71 Fällen kamen Täter oder Täterin laut IKG aus dem muslimischen Umfeld. Ganz anders ist dieses Verhältnis bei den physischen Angriffen und Bedrohungen, da sind muslimische Täter und Täterinnen in der Zählung der IKG überrepräsentiert. Antisemitische Massenzuschriften hingegen kommen überdurchschnittlich oft aus dem rechten Umfeld.

So wie bei allen Hassverbrechen richten sich die Vorurteile der Täter und Täterinnen nicht gegen die tatsächliche Religion des Opfers, sondern gegen die wahrgenommene. Zwei der acht körperlichen Angriffe richteten sich gegen nichtjüdische Personen, die von den Angreifern für jüdisch gehalten wurden – freilich ist auch das als antisemitischer Angriff zu werten. Einer der beiden ist der Fall einer Judaistik-Studentin, die in der Straßenbahn ein Buch mit dem Titel "The Jews in the Modern World" las und deswegen angegriffen wurde.

Die erfassten Zahlen sind naturgemäß nur gemeldete Fälle, wie viele antisemitische Übergriffe es tatsächlich gab, liegt im Dunkeln. Außerdem, so merkt die IKG an, stelle man fest, dass die Bereitschaft zu Meldungen gestiegen sei. (Gabriele Scherndl, 2.9.2021)