Alles, nur kein Zoom: Das war wohl einer der Leitsätze, unter denen am Dienstag in Israel die Schulen wieder öffneten. Das Ziel war, so viele Schülerinnen und Schüler wie möglich in der Schule am Unterricht teilnehmen zu lassen. Fernunterricht soll diesmal, anders als in den ersten drei Epidemiewellen, die Ausnahme sein.

Banger Blick in den Klassenraum einer Schule im Jerusalemer Stadtviertel Beit Hakerem, in dem alle Schülerinnen und Schüler eine Maske tragen müssen.
Foto: AFP / Menahem Kahana

Das letzte Schuljahr "war für die Kinder eine Belastung, die in keinem Verhältnis steht zum epidemiologischen Risiko", meint Ronit Calderon-Margalit, Epidemiologin an der Hebräischen Universität Jerusalem, im Rückblick auf monatelange Schulschließungen. Andauerndes Lernen per Video, gepaart mit einem Wegfallen aller Freizeitangebote in mehreren Lockdowns: Die Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder werde man erst in einigen Jahren abschätzen können, meint die Expertin.

Schon jetzt sehe man aber, dass bestimmte Diagnosen – Angststörungen, Depressionen oder Essstörungen – in den Monaten der verordneten Vereinzelung zugenommen haben. Im Nachhinein betrachtet, sei das, was man den Kindern angetan habe, "unverantwortlich" gewesen, glaubt Calderon-Margalit.

Damit das die ohnehin hohen Infektionszahlen nicht zum Explodieren bringt, wurden die Regeln in den Schulen verschärft. So müssen Lehrerinnen und Lehrer regelmäßig einen 3G-Nachweis erbringen, wobei ein Testergebnis nicht älter als 48 Stunden sein darf. Auch für Eltern gilt generelles Betretungsverbot für das Schulgebäude, wenn sie keinen Nachweis haben. Überprüft wird das von Securitys am Eingang.

Im Schulgebäude gilt ausnahmslos Maskenpflicht für alle, auch in der Pause. Wobei der Unterricht ohnehin so weit wie möglich im Freien stattfinden soll – was in Israel zumindest im September nicht am Wetter scheitern sollte.

90.000 in Selbstisolation

Wenn ein Kind oder Lehrer positiv getestet wird, müssen alle ungeimpften Klassenmitglieder in Quarantäne. Wobei von den 2,4 Millionen Schülern und Schülerinnen in Israel schon am ersten Schultag über 90.000 nur von zu Hause aus mitmachen konnten, weil sie sich in Selbstisolation befanden.

Strengere Regeln gelten für die Zwölf- bis 18-Jährigen in den "roten" Gemeinden – also Städten mit hohen Inzidenzen. Da grundsätzlich allen Zwölfjährigen die Impfung offensteht, gilt hier die Regel: Wenn mehr als 70 Prozent der Schüler einer Klasse ungeimpft sind, wird per Zoom gelernt – es sei denn, das Schulgelände bietet Platz genug für sicheres Lernen im Freien.

Die Entscheidung, die Schulen zu öffnen, war den Verantwortlichen alles andere als leichtgefallen. Bis zuletzt wurde gemunkelt, ob die Regierung den Schulbeginn nicht doch noch verschiebt.

Infektionsfallzahlen so hoch wie in keiner Welle zuvor

Den Vorsichtigen geben die täglichen Infektionsfallzahlen recht. Sie sind derzeit so hoch wie in keiner Welle zuvor. Über 10.000 bestätigte Neuinfektionen pro Tag an mehreren Tagen in Folge, trotz hoher Durchimpfungsrate – das ist alles andere als beruhigend. Gelindert wird die Sorge zwar dadurch, dass die Zahl der schweren Fälle wieder sinkt. Dieser Trend könnte sich aber wieder umkehren.

Nadav Davidovitch, Leiter des Public-Health-Programms an der Ben-Gurion-Universität im Negev, glaubt dennoch, dass es gut war, die Schulen zu öffnen. Im Kampf gegen das Virus habe man nicht nur auf die Infektionskurve zu achten, sondern immer auch die psychische Gesundheit der Menschen im Auge zu behalten. Oft stehen die beiden Faktoren im Widerspruch. Zumal die Septembertage in Israel eine besonders sensible Zeit sind: Nur fünf Tage nach Schulbeginn wird das jüdische Neujahrsfest Rosh Hashana gefeiert, mit einem Feuerwerk bei Verwandtenbesuchen, Familienfeiern und Betversammlungen.

Die Gefahr, dass jene Kinder, die sich in der Schule angesteckt haben, das Virus dann an diverse Angehörige weitergeben, besteht. Ob sich das in gesteigerter Morbidität widerspiegeln wird, könnte sich aber erst zehn Tage nach dem Fest zeigen. Und dann steht schon der hohe Feiertag Yom Kippur auf dem Plan – mit weiteren Versammlungen. Manche Synagogen haben dafür strikte Anmeldesysteme eingerichtet, um die Zahl der Besucher zu regulieren. Das tun aber nicht alle – und die Polizei hat nicht die Ressourcen, um flächendeckend zu kontrollieren.

Impfen vor allem für Juden

Ganz generell scheitere viel an Ressourcen, und nicht nur an der oft kritisierten fehlenden Disziplin der Menschen beim Maskentragen und Abstandhalten, meint Davidovitch. Israel gelte zwar als Impfweltmeister, aber bei näherem Hinsehen zeige sich, dass das Impfprogramm "vor allem auf die urbane und jüdische Bevölkerung ausgelegt war" – und weniger auf arabisch bewohnte Gemeinden in der Peripherie. Dort ist die Impfrate niedriger.

Wenn man nun die Schulklassen mit geringer Impfquote zum Zoom-Lernen verdonnert, treffe man damit besonders oft arabische Schüler, sagt Davidovitch. Die bestehende Bildungskluft zwischen Arabern und Juden werde damit noch vergrößert. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 3.9.2021)