Sand, Schotter, Marmorwürfel. Fliesen, Stoffmuster, in Fläschchen abgefüllte Erdpigmente. Nüsse, Tamarinden, getrocknete Gorgonien aus dem Pazifik, auch bekannt als Fächerkorallen, warum auch immer. "Es muss nicht immer jedes einzelne Element für jeden Menschen einen Sinn ergeben", sagt Tatiana Bilbao, "aber für mich sind das wichtige atmosphärische Hilfsmittel, um mich einem Ort, einem Entwurf, einem architektonischen Prozess anzunähern. Ich kann gar nicht anders. Um Architektur zu machen, brauche ich diese sinnlichen Bausteine um mich herum."
Und so ist der erste Eindruck, sobald man den Ausstellungsraum im Architekturzentrum Wien (AzW) betreten hat, der eines etwas bunteren, etwas fröhlicheren als sonst gestalteten Naturkundemuseums an der Schnittstelle zwischen Fossilabteilung und anthropozänischer Petrologie. In riesigen Setzkästen samt Ablagen und Schubladen – Rausziehen und Stöbern zum Teil erwünscht – bilden die Muster und Proben so etwas wie ein lautes Hintergrundrauschen zwischen Fotos, Collagen und mal aus Holz, mal aus Stein, mal aus schwerem Beton hergestellten Architekturmodellen.
"Die Ausstellung in Wien ist für mich eine große Ehre", sagt die 1972 in Mexiko-Stadt geborene Architektin. "Zugleich war die Konzeptionierung und Vorbereitung darauf ein innerer Prozess der Reflexion und Katharsis, denn ich hatte auf diese Weise die Möglichkeit, mich durch 15 Jahre Bürogeschichte durchzuwühlen." Ihr Studio befindet sich auf dem Paseo de la Reforma, mitten in einer der größten Städte der Welt. Das Lager liegt etwas außerhalb am Stadtrand. "Ich habe alle Kisten auf die Straße gestellt, ausgepackt und inmitten der Tausenden, jahrelang dokumentierten und eingelagerten Artefakte auf einem Stuhl Platz genommen. Daraus also musste ich eine Ausstellung machen."
Recht auf Schönheit
Das Resultat dieser mentalen Setz- und Ordnungsarbeit, die bereits im Louisiana Museum of Modern Art im dänischen Humlebæk zu sehen war und nun nach Wien hergewandert ist, erinnert ein wenig an den 1999 erschienenen Film Being John Malkovich, wo man auf der Liftfahrt in den siebeneinhalbten Stock einen Zwischenaufenthalt in den Gehirnwindungen des titelgebenden Protagonisten einlegen konnte. In der nüchtern betitelten Ausstellung Tatiana Bilbao Estudio bekommt man Einblick in die Denk- und Arbeitsweise einer jener Architektinnen, die für ein neues lateinamerikanisches Selbstverständnis dieses kreativen Berufsstands stehen.
"Tatiana Bilbao ist Vertreterin einer neuen Generation an Architekturschaffenden, die nicht mehr Einzelheroinnen hervorbringt, sondern im Kollektiv und in der Zusammenarbeit fragt, welchen Beitrag Architektur für die Gesellschaft leisten kann", sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW. "Es sind poetische, sinnliche Projekte, die unabhängig vom finanziellen Status der Auftraggeberinnen und Auftraggeber realisiert werden und beweisen, dass das Recht auf Schönheit keine Frage des Budgets ist."
2001 war Mexiko in einen milliardenschweren Wohnbauskandal rund um den staatlichen Wohnbauträger Infonavit verwickelt. Zu der Zeit war Bilbao Konsulentin in der städtischen Behörde für Wohnbau und Entwicklung in Mexiko-Stadt. "Mexiko ist das am schnellsten wachsende Land in Lateinamerika", sagt sie. "Wir haben dringenden Bedarf an billigen, leistbaren Wohnungen für die Armen. Es fehlen uns rund elf Millionen Wohnungen. Was damals passiert ist und was heute passiert, indem Investoren viel zu kleine, viel zu billig errichtete Häuser irgendwo in der Landschaft ohne Anschluss an Infrastruktur und öffentlichen Verkehr errichten, geht leider an den akuten Themen vorbei, mit denen wir konfrontiert sind."
Soziale Sensibilität
Neben hübschen Hochhäusern und atemberaubend in die Landschaft hineinplatzierten Luxus villen, die den Besucher dieser so sinnlichen, zur sozialen Sensibilität aufrufenden Ausstellung ein wenig irritieren, sind es genau diese inklusiven Planungsprozesse und hochintelligenten sozialen Wohnbaukonzepte, die die Schau – und letztendlich auch das gesamte Architekturbüro – so spannend erscheinen lassen.
"Zwei Drittel der mexikanischen Bevölkerung gelten als arm, der Analphabetismus ist weit verbreitet, und viele sind nicht in der Lage, Pläne zu lesen", meint die Architektin, die sich schon seit ihrem dritten Lebensjahr von Baustellen und Ruinen angezogen fühlt. "Und dennoch haben diese Menschen ein dringliches Interesse am Wohnen und einen Auftrag an uns. Aus diesem Grund haben wir vor vielen Jahren die Zeichnungen, Collagen und Modelle als Kommunikationsmittel entwickelt. Mit diesen Medien teilen wir uns mit."
So wie zum Beispiel in der Wohnsiedlung Acuña in Coahuila, wo das Studio 2015 eine Wohnsiedlung aus insgesamt 16 Häuschen mit jeweils 52 Quadratmeter Wohnfläche errichtet hat. Gearbeitet wurde mit Collagen und Modellen. Diese halfen dabei, den Leuten eine Idee davon zu vermitteln, wie das Zentrum ihres doppelgeschoßigen Hauses aus massiven Baustoffen errichtet wird und wie die Bewohner und Bewohnerinnen die Grundstruktur im Laufe der Jahre durch Einziehen von Wänden und Decken in Eigenregie um einige Schlafzimmer erweitern können. Das Wohndörfchen hat eine entzückende Schönheit. So wie auch die Ausstellung. Die Seele fühlt sich megawohl zwischen all den Baumwollbällchen und Pigmentfläschchen. Der Kopf zugleich ist irritiert ob der Tatsache, im AzW schon lange nicht mehr so viel Sinnlichkeit und so wenig Kritik im Zentrum gesehen zu haben. (Wojciech Czaja, 05.09.2021)