Die Annahme, die westliche Vision von Gesellschaft, mithilfe der Nato und von NGOs nach Afghanistan getragen, sei in jedem Fall vorteilhafter als die etablierte, die die Taliban zu verteidigen vorgaben, erwies sich als verhängnisvoller, eitler Irrtum." Diesen Satz schreibt der deutsche Islamwissenschafter Stefan Weidner im kurzen Afghanistan-Kapitel seines vor ein paar Monaten erschienenen Ground Zero – 9/11 und die Geburt der Gegenwart. In diesem Buch schlägt er einen Neubeginn vor: Zwanzig Jahre nach den Angriffen von Al-Kaida in New York und Washington müssten wir uns von den "Fesseln" dieser Ereignisse befreien – davon, was sie in den zwanzig Jahren danach mit der Welt und uns gemacht haben –, um uns den existenziellen Herausforderungen der gesamten Menschheit zu stellen.

Nun ist er da, der 20. Jahrestag von 9/11. Und die Demütigung, die die USA und ihre hilflosen Nato-Verbündeten und unsolidarischen Anhängsel – "unsere westlichen Werte" teilt Österreich gerne mit den USA, die Folgen der Niederlage dieser Werte nicht – soeben erlitten haben, ist um nichts geringer als jene vom 11. September 2001. Die Adjektive "verhängnisvoll" und "eitel" in Weidners oben zitiertem Satz taugen gerade noch. Man sucht heute, nach drei Wochen Chaos, Elend, Wut und Tod am Flughafen in Kabul, nach stärkeren Wörtern.

Würdevoller Abzug

Man darf sich fragen, was der psychologische Hintergrund dafür war, dass US-Präsident Joe Biden zuvor für den Abschluss des US-Abzugs just das Datum 11. September anvisierte. Wie gedachte er, an diesem Tag das Kapitel Afghanistan abzuschließen? Würdevoll, zufrieden? Mit mahnenden Worten an die machthungrigen Taliban und die korrupte afghanische Regierung, sich doch bitte zu vertragen? Und natürlich, wie mit den Taliban am 2. Februar 2020 vertraglich abgemacht, alle Terrororganisationen aus Afghanistan herauszuhalten, denn, wie oft haben wir es gehört, "Afghanistan darf kein sicherer Hafen für Terroristen" mehr werden.

Seine Generäle, die Geheimdienstbriefings vielleicht besser verstehen als der Präsident, haben Biden den 11. September als endgültiges Abzugsdatum wohl ausgeredet. Sie hatten sich vielleicht bereits einige "unschöne Bilder", wie man das so nennt, ausgerechnet.

Nun ist die Flucht vom Flughafen Kabul – keiner sagt mehr "Hamid Karzai International Airport", benannt nach dem von den USA erfundenen ersten Präsidenten Afghanistans nach dem Sturz der Taliban 2001 – abgeschlossen. Weidners Wunsch, die Welt möge sich gemeinsam etwas anderem zuwenden, wird unerfüllt bleiben. Nicht dass er nicht recht hätte damit, dass die Konfrontationsspirale zwischen "Westen" und "Islam" unfruchtbar und fatal sei. Aber sie wird uns noch nicht freigeben.

9/11 und die Bilder davon haben sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingegraben. Hier ein Bild der Türme von Eugen Freund, dem damaligen Washington-Korrespondenten des ORF, aus dem Jahr 1998.
Foto: Eugen Freund

Es begann viel früher

Begonnen hatte es lange vor 9/11, aber die ersten durchgeplanten, großen Anschläge der ominösen Terrororganisation Al-Kaida trafen am 4. August 1998 die US-Botschaften in Tansania und in Kenia, im fernen Afrika. Als die damalige STANDARD-Außenpolitikchefin am 11. September 2001 aus ihrem freien Tag in die Redaktion eilte und wie alle fassungslos auf die am TV-Schirm immer wieder einstürzenden Türme des World Trade Center in New York starrte, hatte sie jedoch auf ihrem Schreibtisch eine Ausgabe von Jane’s Intelligence Review liegen. Seltener Luxus, eine teure Zeitschrift, gekauft hatte ich sie wegen eines Artikels über die Terrororganisation des gebürtigen und ausgebürgerten Saudis Osama bin Laden, deren Mitglieder nun angeblich Pilotenausbildungen absolvierten.

Osama bin Laden ist, genauso wie die Taliban, ein Kind des Kriegs gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan in den 1980er-Jahren. Also Teil unserer Geschichte, Teil des Kalten Kriegs. Die USA, stellvertretend für den freien Westen, unterstützten mithilfe Saudi-Arabiens und Pakistans einen Jihad – ein Mujahed ist der, der ihn ausführt – gegen die Sowjets.

Als Moskau 1989 Afghanistan aufgab, hatten beide gesiegt: der Westen, aber auch die Mujahedin. Nur Afghanistan nicht, das versank im Bürgerkrieg. Mitte der 1990er-Jahre wurde ein Teil des Landes von den Taliban in einem "Islamischen Emirat" grausam befriedet: afghanische paschtunische Flüchtlinge, die in Islamschulen in Pakistan indoktriniert und vom pakistanischen Geheimdienst ISI militärisch ausgebildet und heimgeschickt worden waren.

Wie die Geschichte weiterging, wissen wir, sie kulminierte 9/11: Nicht nur die Sowjets waren besiegbar, sondern auch der zweite große ideologische Gegner, die imperialistischen USA. Al-Kaida, die es sich im Taliban-Staat bequem gemacht hatte, schlug in den USA zu. Die Illusion, sich unbeschadet einer radikalen religiösen Ideologie bedienen zu können und sie dann dort zu lassen, wo sie angeblich hingehört – in Afghanistan –, brach zusammen.

Nach dem Wegfall des Kommunismus zehn Jahre zuvor gab es nun auch wieder einen globalen Feind, Terroristen, deren Beweggrund der Islam war, Islamismus, Jihadismus, Fundamentalismus, Steinzeitislam, je nach Gusto. Und der mit uns natürlich gar nichts zu tun hatte. Und wer etwas anderes in die Diskussion einwirft – etwa dass die um 1900 entstandenen islamistischen Bewegungen oft einen antikolonialistischen Hintergrund hatten, wie ja auch der Deobandismus, aus dessen Umkreis die Taliban-Ideologie teilweise kommt –, der wird wahrscheinlich von der neuen "Dokumentationsstelle Politischer Islam", die die österreichische Regierung geschaffen hat, aufgeschrieben.

Der Al-Kaida-Chef

Aber zurück zu unserer Geschichte: Die Taliban waren 2001 schnell gestürzt, Al-Kaida war schnell abgetaucht. Es ist fast unvorstellbar, dass der Stellvertreter von Osama bin Laden, der Ägypter Ayman al-Zawahiri, zwanzig Jahre später noch immer da ist. Bin Laden wurde von den USA 2011 gestellt und getötet, in Pakistan. Man stellt sich Zawahiri als steinalten Mann in einer Höhle vor, aber er ist erst 70 Jahre alt und wird wahrscheinlich genauso komfortabel residieren wie bin Laden in Abbottabad.

Das Schlimmste ist jedoch vielleicht, dass der globale Konkurrent von Al-Kaida, der "Islamische Staat", ab 2014 international einen derartigen Schrecken zu säen imstande war, dass Al-Kaida bei den Menschen, die 9/11 nicht bewusst miterlebt haben, fast vergessen ist. Al-Kaida zuzurechnende syrische "Rebellen" können im August 2021 in Idlib den Taliban-Sieg in Afghanistan feiern, ohne dass das überhaupt Schlagzeilen macht.

Dass die USA in Afghanistan intervenierten, war vom allgemeinen westlichen Konsens gedeckt: Der Al-Kaida-Angriff löste den ersten Nato-Bündnisfall aus. Die transatlantischen Solidaritätsgefühle fielen jedoch in ein tiefes Loch, als die USA im Frühjahr 2003 mit Großbritannien und einigen anderen Verbündeten – darunter einige europäische Staaten, die noch im Prozess des EU-Beitritts standen – in den Irak einmarschierten.

Freedom anstatt French Fries

Mangels überzeugender Kriegsgründe bekamen die USA kein Mandat des Uno-Sicherheitsrats für den Krieg, Washington kreidete den Franzosen die mangelnde Unterstützung gleichsam als Verrat an. "Freedom Fries" anstatt "French Fries" in den USA: Das war aber auch schon das einzige Amüsante an der transatlantischen Spaltung.

Im Irak verloren die USA ihre Glaubwürdigkeit gleich zwei Mal: durch die Lüge am Anfang und dann durch ihr Scheitern – das auch dazu beitrug, Afghanistan abrutschen zu lassen. Denn der mühsam zusammengehaltene Irak fraß Ressourcen, die in Afghanistan fehlten.

Vor zehn Jahren, zum zehnten Jahrestag von 9/11, suchte ich Lakhdar Brahimi in Paris für ein Interview auf, den algerischen Diplomaten, der fast sein ganzes Leben im Einsatz für die Uno verbrachte – seine letzte Mission war die des Sondergesandten für Syrien (2012–2014). Brahimi wurde nach den US-Interventionen sowohl nach Kabul als auch nach Bagdad geschickt, wo er, wie er mir sagte, "weißhaarige US-Diplomaten" traf, "die schönes Arabisch sprachen und die Region verstanden – und auf die in Washington niemand gehört hat". Seine Analyse vom September 2011 ist angesichts des Desasters von Kabul wie eine düstere Vorausschau auf spätere Ereignisse.

2011 hatte der Irak bereits einen sunnitisch-schiitischen Bürgerkrieg hinter sich, aber der Aufstieg des "Islamischen Staates", der im Aufstand in Syrien seinen Katalysator finden sollte, stand noch bevor. Die Lage in Afghanistan war bereits schwierig, aber im Vergleich mit dem, was der Irak erlebt hatte, schien das Land doch irgendwie auf Schiene zu sein. Laut Brahimi waren die USA jedoch von Anfang an "mental im Irak", ihrem strategischen Ziel. In Afghanistan wollten sie nur Rache nehmen, "wie ein angegriffener Stamm". Bereits wenige Tage nach 9/11 lag die Möglichkeit eines Irakkriegs auf dem Tisch.

In Afghanistan, wo die Taliban die Auslieferung Osama bin Ladens verweigert hatten, bestand der Beginn des "nation building" darin, dass "einfach die Nordallianz zurückgebracht wurde, die bei den Menschen noch verhasster war als die Taliban selbst", sagte Brahimi am 10. September 2011 in einer STANDARD-Schwerpunktausgabe zu zehn Jahre 9/11. Die Entscheidungen in den USA, in der Regierung von Präsident George W. Bush, lagen demnach immer bei jenen, denen es genügte, dass die Taliban "erledigt" waren.

Die Twin Towers spiegeln sich in den Regenpfützen von Downtown Manhattan, eines der vielen Fotos, die Eugen Freund während seiner USA-Zeit aufnahm.
Foto: Eugen Freund

Strategische Ziele

Der Irak war das strategische Ziel – aber damit anzufangen wussten die USA auch nichts. Es sollte wohl alles von selbst laufen. Die Besatzungstruppen wollten nach dem Sturz des Saddam-Regimes anfangs nicht einmal das Chaos und die Plünderungen stoppen. Danach wurde von der US-Verwaltung in Bagdad, wie von einer Checkliste herunter, eine Entscheidung nach der anderen getroffen, die, so Brahimi, "keinen Sinn" machte: "Ach, die vielen Experten, die gesagt haben: ‚Löst nur ja die irakische Armee nicht auf, das ist das Rückgrat der Gesellschaft.‘ Es war das Erste, was sie getan haben."

Mossul 2014

Dass der Chef der damaligen US-Verwaltung im Irak, Paul Bremer, nun am 20. August, fünf Tage nach dem Fall von Kabul, im Wall Street Journal einen genüsslichen Gastkommentar über den erfolgreichen Irak schreibt, ist nicht einmal mehr ein Treppenwitz. Unter dem Titel "As Afghanistan Reverts, Iraq Makes Steady Progress" lobt Bremer, der 2004 den Irak wegen der katastrophalen Sicherheitslage bei Nacht und Nebel verlassen musste, die "fähige" irakische Armee.Die Parallelen zwischen der kampflosen Einnahme Kabuls durch die Taliban und jener der zweitgrößten Stadt des Irak, Mossul, durch ein paar Tausend Milizionäre des "Islamischen Staats" auf ihren Pick-ups – vor denen etwa 30.000 irakische Soldaten in Panik flohen – im Juni 2014 scheinen ihm zu entgehen. Immerhin schreibt Bremer auch den denkwürdigen Satz "Die USA fanden keine Massenvernichtungswaffen im Irak". Auch das wurde jahrelang nur verklausuliert zugegeben.

Dafür hefteten sich vor zehn Jahren, als sich die späteren Verwerfungen noch nicht abzeichneten, die Proponenten des Irakkriegs den Arabischen Frühling auf ihre Fahnen. Seht, nun wollen alle Araber eine Demokratie wie im Irak und jagen ihre Diktatoren davon!

Mit der Irak-Intervention hatten die Revolutionen und Umstürze von 2011 höchstens die Gemeinsamkeit, dass es absolut keinen Konsens in den Gesellschaften gab, wie die Zukunft nach dem Sturz des Diktators aussehen sollte. Was danach kam, waren Kriege und neue autoritäre Wendungen, zuletzt, im Juli 2021, auch noch in Tunesien.

Der Aufstieg des Iran

Das für die Region nachhaltigste Resultat der Irak-Intervention war zweifellos der regionale Aufstieg der Islamischen Republik Iran durch den Wegfall Saddam Husseins aus der Nahostgleichung. Und damit kam die Zuspitzung der regionalen Auseinandersetzung des schiitischen Iran mit den sunnitischen arabischen Staaten. Sie verschärfte sich nach 2011, als der Iran im Arabischen Frühling die revolutionären Bewegungen begrüßte, und suchte sich ihre Schlachtfelder, wie in Syrien und im Jemen.

Die Bilanz ist düster, im Land, in dem alles seinen Ausgang genommen hat, Afghanistan, aber auch in den USA, wo ein Präsident, auf den nach den albtraumhaften Trump-Jahren viele ihre Hoffnung gesetzt haben, wie ein starrsinniger Alter aussieht, der die Dinge nicht mehr so richtig begreift. Die Insistenz, mit der Joe Biden die Zahl 300.000 wiederholte, für eine angeblich existierende einsatzfähige afghanische Armee – eine Schattenarmee –, war fast tragisch. Nach den Anschlägen des "Islamischen Staats" in Kabul werden Drohnen ausgeschickt, um ein paar IS-Führer zu töten. Mehr fällt den USA zwanzig Jahre nach 9/11 nicht mehr ein. (Gudrun Harrer, ALBUM, 11.9.2021)