Schon 2004 erschien Art Spiegelmans Im Schatten keiner Türme über seine Erlebnisse und den Schrecken vom 11. September 2001, als terroristische Angreifer mit zwei Linienflugzeugen in die Zwillingstürme des World Trade Centers rasten und zusammen mit zwei weiteren entführten Maschinen fast 3000 Menschenleben auslöschten. Für den Zeichner von Maus – Die Geschichte eines Überlebenden (1989/1991) prallten an diesem Tag "Weltgeschichte und eigene Geschichte" aufeinander. Der Ratschlag seiner Eltern, beide Auschwitz-Überlebende, seine Koffer stets gepackt zu halten, habe an diesem Tag eine unvorhergesehene Brisanz erhalten. Statt seine Siebensachen "verstaute" der Zeichner seine Trauer "in Kästchen" und versuchte in einem "Zeitlupen-Tagebuch" das Trauma aufzuarbeiten, das die Erschütterungen jener vermeintlichen Sicherheiten auslösten, die ihm die Stadt New York, dieses "Kleinod", zu bieten schien.

Der Schauder angesichts der Ephemerität selbst robuster Wolkenkratzer führt den Comickünstler zurück zur Stunde null der Comicgeschichte, als die Strips der frühen Meister von Richard Outcault (Hogan’s Alley) über Lyonel Feininger (Kinder Kids) bis George Herriman (Krazy Kat) in den US-amerikanischen Zeitungen ihre Auftritte hatten. Die Flüchtigkeit scheinbar unumstößlicher moderner Architektur erinnert ihn an die gnadenlose Vergänglichkeit des Zeitungspapiers und seiner Sonntagsstrips, die zwar mit unglaublicher Akribie und Leidenschaft verfertigt, aber niemals länger als für den Tag konzipiert waren.

Der Comic lässt das Ausmaß des Schreckens sichtbar werden.

Auf das Trauma, das der gewaltsame Einsturz dieser "arroganten Kisten" und die tausendfachen Opfer verursachten, folgte ein weiteres. Die manichäische Reaktion der Bush-Regierung auf die Attentate, die mit einer brachialen Kriegserklärung an die Terroristen und die sie beherbergenden Länder begann, bringt den Zeichner in eine verfahrene Lage, in der er sich "gleichermaßen terrorisiert von Al-Kaida und seiner eigenen Regierung" fühlt. Im Schatten keiner Türme, zuerst in der Zeit erschienen, nachdem die US-amerikanischen Zeitungen verlegen ablehnten, wurde somit zum Manifest gegen die dualistische Weltsicht, die unaufhaltsam überhandnahm.

Es kommt mir vor wie gestern

Wie sehen wir heute auf diese Zeit "der Inversion aller Maßstäbe" (Kathrin Röggla) zurück, und wie sieht die Lage 20 Jahre danach aus? Die französische Zeichnerin Héloïse Chochois und der französische Journalist Baptiste Bouthier waren 2001 noch Kinder von zehn bzw. dreizehn Jahren. In ihrer Comicdokumentation 9/11 – Ein Tag, der die Welt veränderte lassen sie die 33-jährige Juliette auf ihre Erinnerungen zurückblicken. Auf ihrem Flug von Paris nach New York gelangt sie rasch in eine Assoziationskette New York – Flugzeuge – 11. September 2001. Der Gedächtnisweg verläuft kurz. "Es kommt mir vor wie gestern." Wohl kaum ein Ereignis der letzten Jahrzehnte hat sich derart in die Gehirne der Menschen eingebrannt wie die einstürzenden Türme des WTC, und das gilt wohl global. Der Comic ist eine Rahmenerzählung, die in der Klammer die Perspektive des Kindes durchspielt, das den Terrorangriff medial, über Gespräche der Eltern und anderer Erwachsener sowie Kommentare am Schulhof miterlebt.

Am Ende der 9/11-Attacke waren nicht allein zwei Stahlbauten zerstört, sondern eine ganze Welt voller alter Gewissheiten.

Im Mittelpunkt stehen jedoch die Beschreibungen der Erlebnisse aus der jeweiligen Sicht von Überlebenden und die Darstellung der Folgen der politischen Reaktionen auf den Terroranschlag. Dabei erstaunt, wie isoliert die Einschätzungen einzelner Menschen – noch vor der allgemeinen Smartphone-Zeit – waren, die die Ereignisse vom ersten Flugzeug, das auf den Nordturm zusteuert, bis zum Einsturz desselben, der als zweiter zusammenbricht, aus unmittelbarer Nähe miterleben mussten. Unter Verzicht auf sensationsheischende Effekte ist die Rekonstruktion der Abläufe unaufgeregt, doch intensiv und unmittelbar aufgrund der wechselnden Blickwinkel.

Dabei gelingen der Zeichnerin eindrucksvolle Passagen, etwa wo die Architektur der Comicseiten das beschädigte Gefüge der Türme spiegelt oder der Rauch der Explosionen die Panels anfüllt. Schicht um Schicht lässt der Comic das Ausmaß des Schreckens sichtbar werden. Das, was sich innerhalb von rund einhundert Minuten abspielt, entzieht sich bis zum letzten Augenblick der Vorstellbarkeit der Beteiligten. Am Ende waren nicht allein zwei Stahlbauten, sondern mit ihnen eine Welt voller alter Gewissheiten erschüttert.

Im Anschluss skizziert der Comic den Verlauf von den ersten Bush-Statements, den ersten Bildern von Osama bin Laden, der nationalen Einheit bis zu einer Kriegserklärung, deren Gegner ungreifbar bleibt: "Unser Krieg gegen den Terrorismus beginnt mit der Al-Kaida, aber er wird dort nicht enden."

9/11-Comic: Sensibel in der Darstellung, erhellend in der Analyse.

Mit einer Blankovollmacht für den US-amerikanischen Militäreinsatz gehen einschneidende Einschränkungen der Grundrechte einher. Der sogenannte Patriot Act findet Nachahmer in vielen Ländern, weltweit. Während die Nichtverhinderung der Terroranschläge – laut offiziellen Analysen des "9/11 Commission Report" (2004) – Folge eines Totalversagens der einander konkurrierenden US-amerikanischen Nachrichtendienste war, wird deren Machtausbau nun massiv auf Kosten der Bürger betrieben. Als Ausnahmegesetze konzipierte Regelungen sind heute noch in Kraft. Im Oktober 2001 bombardieren die USA Afghanistan. Im März 2003 beginnen sie zusammen mit der "Koalition der Willigen" einen weiteren Krieg im Irak. Was der Comic unmissverständlich klarstellt: Die zweifellos entsetzlichen Terrorangriffe dienten den USA als willkommener Vorwand, ihre beschädigte Rolle als Weltmacht wiederherzustellen, sowie als Vorwand für eine Überwachung großen Stils, weit über die USA hinaus. In seiner Kürze strafft der Comic Zusammenhänge, die auf den 11. September zurückgehen und die Politik bis heute bestimmen.

"Der Krieg gegen den Terrorismus wird nicht eher zu Ende sein, bis jede weltweit tätige terroristische Gruppe gefunden, am weiteren Vorgehen gehindert und besiegt worden ist." Gemessen an den Ansprüchen der Bush-Regierung ist deren Strategie gescheitert: Nicht nur weitere terroristische Attentate von Madrid (2004), London (2005) bis Frankreich (2015, 2018, 2020) konnten nicht verhindert werden, die Kriege in Afghanistan und Irak haben ihre vorgegebenen Ziele keineswegs erreicht, für die Zivilbevölkerungen jedoch katastrophale Folgen geschaffen. Die Unvernunft des Krieges gebar das Ungeheuer IS. Auch wenn Bin Laden heute tot ist, die derzeitigen Entwicklungen in Afghanistan sind verheerend.

Eine Frage, die der Comic "9/11" nicht stellt, ist die Frage, vor der sich der sogenannte Westen allzu sehr scheut: Was war der Nährboden für den Terrorismus und die Terroristen, die sich diese monströsen Angriffe zum Lebensziel gesetzt haben? Sie würde diesen Westen zwingen, sich auf breiter Ebene mit der eigenen Geschichte, den antidemokratischen Interventionen und dem Erbe des Kolonialismus im Nahen und Mittleren Osten auseinanderzusetzen. Für all jene, die sich den Ereignissen vom 11. September 2001 erstmals annähern, bietet der Comic einen guten Einstieg, sensibel in der Darstellung, aber auch erhellend in der Analyse. (Martin Reiterer, ALBUM, 6.9.2021)