Die Schriftstellerin Ling Ma beschreibt eine Gemeinschaft der Überlebenden.

Foto: Anjali Pinto

Eine tödliche, aus China stammende Krankheit, zusammenbrechende Infrastrukturen, maskenbewehrte Menschen auf den Straßen – kommt einem alles ein bisschen bekannt vor, was Ling Ma in ihrem Debüt New York Ghost so erzählt. Aber so plump, wie es zuerst klingen mag, ist der Roman der 1983 in China geborenen und in Chicago lebenden Autorin, der auf der Shortlist des PEN/Hemingway Award for Debut Novel stand und unter anderem mit dem Young Lions Fiction Award ausgezeichnet wurde, beileibe nicht – was nicht zuletzt daran liegt, dass er 2018 unter dem Originaltitel Severance erschien, in einer weit entfernten Zeit also, in der Corona noch ein Bier war. Das auch getrunken wird in diesem Roman, von den Überlebenden des Shen-Fiebers, neun Menschen, die nach dem "ENDE" in den "ANFANG" starten, der aus der Plünderung verlassener oder teilweise noch von erkrankten, halbwegs lebendigen Menschen bewohnter Anwesen besteht (sie nennen es: pirschen) und in einem Einkaufszentrum endet. New York Ghost ist ein zutiefst kapitalismuskritischer Roman, und er spielt in einer Welt, die vom Kapitalismus nicht nur infiltriert ist, sondern die purer Kapitalismus ist.

Die Hauptfigur und Icherzählerin Candace Chen, eine junge Amerikanerin, die im Kindesalter ihren Eltern aus China in die USA folgte, arbeitet für einen Verlagsdienstleister, sie ist zuständig für die Herstellung von Bibeln. Themenbibeln, weil normale hat ja schon jeder. Sie feilscht mit den chinesischen Druckereien um jeden Cent, und wenn die Halbedelsteine für die Edelsteinbibeln (Zielgruppe: junge Mädchen) nicht geliefert werden, weil den chinesischen Produzenten aufgrund der miserablen Arbeitsbedingungen alle Arbeiter ausfallen, findet sie doch noch irgendwo einen Händler, der unter Druck liefert. Sie ist ein kleines Rädchen im großen globalen Ausbeutungssystem, und wie jedes Rädchen rechtfertigt sie es damit, dass sie doch nur ihren Job mache. Sie macht ihn gut. Dann taucht, fast wie eine kosmische Rache für den unschönen Umgang mit Billiglohnländern, das Shen-Fieber auf.

Eine neuartige Infektion, die sich durch das Einatmen mikroskopisch kleiner Pilzsporen verbreitet. Während der erste Fall bereits 2011 im chinesischen Shenzen auftauchte, breitet sich das Fieber nun, über die Vertriebswege, die auch die chinesischen Waren nehmen, rasant aus. Heilung gibt es keine, auch die N95-Masken helfen (anders als FFP2-Masken im Fall des Coronavirus) wenig. Nach anfänglichen erkältungsartigen Symptomen werden die Fiebernden langsam zu Zombies, die in ihren eigenen Erinnerungsspuren verlorengehen, mechanisch immer dieselben Tätigkeiten ausführen, unterernährt, ungepflegt und bizarr gekleidet durch ihr altes Leben irren und schließlich an ihrem fortschreitenden Bewusstseinsverlust versterben. Oder auch nicht, und hier kommen wieder die pirschenden Überlebenden ins Spiel, die diese gut getroffenen Karikaturen von Menschen im späten Konsumkapitalismus durch einen Kopfschuss "erlösen".

Bevor sie sich der Gruppe anschließt, harrte Candace als einer der letzten Menschen in New York aus, wo sie stur an ihrem Arbeitsalltag im verwaisten Bürogebäude festhielt und ihren in ihrer Anfangszeit in der Stadt begonnenen Fotoblog NY Ghost wieder aufnahm. Dieser Blog, Symbol für einen letzten Rest an Bedeutung in Candace’ sinnentleerter Routine aus Erwerbsleben und Konsum, wird zur Informationsquelle für die letzten Überlebenden. Aber auch diese werden immer weniger.

Zombies und Katastrophen

Im postapokalyptischen Alltag, der wenig an klassische Survival-Narrative erinnert, sondern in Wahrheit eine Weiterführung des exzessiven Konsums mit anderen Mitteln ist, erinnert sich Candace an ihr früheres Leben, und in diesen parallelen Erzählstrang packt Ling Ma noch einiges hinein: eine (biografisch angehauchte) Migrationsgeschichte, eine bissige Satire auf die moderne Arbeits- und Medienwelt und das ziellose, prekäre Leben junger Menschen im kapitalistischen Westen, die seltsam oberflächlichen Beziehungen, die sie führen. Das ist über weite Strecken genial organisch verwoben mit der parallel laufenden Erzählung der Apokalypse, in der auch mit dem Klimawandel zusammenhängende Naturkatastrophen und eine großzügige Dosis Splatter-Zombie-Horror nicht fehlen dürfen. Auch sprachlich ist das gut gemacht, Ling Ma hat eine schlüssige, unaufdringliche Sprache für ihre Figuren, zuvorderst für die Erzählerin, gefunden, von Zoë Beck stimmig ins Deutsche übertragen.

Aber je mehr sich die Situation zuspitzt, die Gemeinschaft der Überlebenden in die Gewalt des gurumäßigen Anführers Bob gerät und zu einer Art Sekte zu werden droht, desto mehr zerfasert das Ganze und driftet zunehmend ab in unbestimmte, ziemlich amerikanisch anmutende Heilsvorstellungen. Das ist schade, weil es dem vorher sehr eigensinnig und originell mit dem Thema umgehenden Roman eine leichte Schlagseite ins Beliebige gibt. Trotzdem ist NewYork Ghost ein bemerkenswerter, kluger Roman über unsere Gegenwart. (Andrea Heinz, ALBUM, 4.9.2021)