Roz Chast: "Es war bizarr, die Luft stank fürchterlich."

Foto: Billy Franzen

Für die junge Roz Chast war Manhattan der große Sehnsuchtsort. Hier begann Ende der Siebzigerjahre die Karriere der Künstlerin aus Brooklyn, hier wurde sie zu einer der beliebtesten Cartoonistinnen und Cartoonisten des New Yorker. Am 11. September 2001 wäre sie in der Stadt gewesen, wenn sie nicht mit ihrer Familie nach Connecticut gezogen wäre, weniger aus Begeisterung fürs Grüne, eher wegen der Kinder.

"Es lief irgendeine Nachrichtensendung im Hintergrund, und plötzlich hieß es, ein Flugzeug sei ins World Trade Center gerast", erinnert sie sich. "Das war schrecklich, aber ich dachte, das ist ein Unfall, so was ist ja schon vorgekommen." Dann sah sie im Fernsehen die zweite Maschine, und für einen Augenblick glaubte sie, man wollte jetzt den Schaden begutachten. "Doch mir wurde sehr schnell klar, dass ich Zeuge von etwas noch nie Dagewesenem war. Ich wusste wie allen anderen nicht, ob das so weitergehen würde."

Böser Traum

Kurz darauf kamen die Nachrichten, dass nach den Zwillingstürmen das Pentagon Ziel eines Selbstmordkommandos wurde und ein weiteres Flugzeug nach Kämpfen an Bord in Pennsylvania abstürzte. Die Welt war nicht mehr dieselbe, eine neue Zeitrechnung entstand, vor und nach 9/11. Aber was hat sich für sie persönlich geändert?

"Zunächst einmal war ich in einem Schockzustand", sagt Roz: "Ich dachte: Hab ich das geträumt? Aber natürlich gab es ununterbrochen Nachrichten, und ich musste mich an die neue Wirklichkeit gewöhnen." Nach New York fuhr sie sehr bald, nach einer Woche, "denn ich mag die Stadt so sehr – ich hatte ein Gefühl, als ob ein geliebter Mensch ernsthaft verletzt worden wäre".

Es hieß, dass die Gegend an der Südspitze Manhattans, unterhalb der 14. Straße, abgeriegelt worden sei, aber sie und ihr Mann schafften es, "wir sind einfach weitergegangen, bis wir die verbogenen Metallstrukturen gesehen haben. Es war bizarr, die Luft stank fürchterlich. Es waren nicht viele Leute da unten. Ich weiß eigentlich nicht, warum wir überhaupt so nahe an den Ort gegangen sind. Wahrscheinlich wollte ich so etwas wie eine Zeugin sein. Es war sehr ruhig. Wir waren ruhig. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten."

Im afghanischen Restaurant

Der Zeichner Art Spiegelman, ein Kollege von Roz, und seine Frau schafften es übrigens auch durch die Sperre, um ihre Tochter zu suchen, die mitsamt allen anderen Kindern aus ihrer Schule in ein improvisiertes Katastrophencamp gebracht worden waren; nachzulesen in In the Shadow of No Towers.

Die Chasts sind dann nordwärts gegangen, irgendwo haben sie etwas gegessen, kaum geredet, die Stadt war wie verwandelt, alles war ruhig, wie in Zeitlupe. "Zwei Wochen später war ich bei einer Buchvorstellung auf der Upper East Side. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es so etwas so bald wieder geben würde." Habe sie vermutet, frage ich sie, dass man sich dort oben, an der Goldküste der Stadt, knapp 15 Kilometer von Ground Zero entfernt, schon nicht mehr sehr um die Katastrophe kümmerte? "Nein, es war das Gefühl, dass man doch weitermachen sollte, dass man trotzdem oder gerade deswegen nicht alles absagen dürfe. Im Gegenteil."

Am Tag des Anschlags auf das World Trade Center hatte sie ihre Eltern angerufen. Da gab es zunächst ein bizarres Gespräch mit ihrem Vater (man habe das Seniorencenter in Brooklyn geschlossen, "es liegt vielleicht am Wort ,Center‘!"), und später erfuhr sie, dass die Mutter gegen den Willen ihres Mannes entschlossen war, nun erst recht ins afghanische Restaurant zu gehen: "Die sollen wissen, dass wir nicht glauben, sie wären alle verrückt!"

Carry on

Ich erzähle ihr, dass ich eine ähnliche Erfahrung gemacht habe, als ich einen Monat nach 9/11 in New York war. Ich suchte einen afghanischen Diner auf der Upper West Side auf, um zu essen, aber auch um zu hören, wie es den Pächtern ging. Gut, war ihre Antwort, die Gäste würden ihnen versichern, dass sie willkommen seien; es würden fast mehr Leute kommen als üblich. Allerdings, fügten sie hinzu, kannten sie Landsleute, die ein Restaurant in Midtown betrieben, wo eher Touristen aus anderen Bundesstaaten unterwegs waren, und dort war die Atmosphäre nicht so angenehm, manchmal richtig feindselig.

Ja, ja, die Leute von auswärts, sagt Roz. "Wenn man Menschen aus, was weiß ich, Nebraska zuhörte, die sich fürchteten und sich gar nicht vorstellen konnten, wie schlimm es erst in New York sein müsste, da dachte ich mir: Ihr lebt da irgendwo in the middle of nowhere, ihr werdet bestimmt nicht attackiert. Zerbrecht euch nicht unseren Kopf!"

Die Bewohner der Stadt machten das, wofür sie einen wohlverdienten Ruf haben: Carry on, mach weiter! Das sei das Ende der Ironie, hatte jemand ungefähr 9/12 behauptet – von wegen! Ironie, Sarkasmus, Satire blühten schon nach kurzer Zeit wieder auf, und New York blieb die relativ liberalste und am we nigsten hurrapatriotische Metropole des Landes.

Erst im Frühjahr 2020, sagt Roz, habe sie die Stadt wieder so erlebt wie in den Tagen nach dem Anschlag. Covid hatte eine gespenstische Ruhe gebracht. Sie blieb dann auch fern, obwohl sie eine Wohnung in Manhattan hat, es erinnerte sie zu sehr an damals. Einige Nachwirkungen spürt sie manchmal bis heute, etwa wenn sie ein Flugzeug am Himmel sieht: Würde sie die Zugfahrt überleben? "Ich bin eben eine ängstliche Person."

Für den kommenden Jahrestag hat Roz jedenfalls schon etwas vor. Sie wird nach New Jersey fahren und ihre Tante besuchen. Die feiert am 11. September ihren 102. Geburtstag. (Michael Freund, ALBUM, 4.9.2021)