Ein Nachmittag in Alpbach: auf der Suche nach Lösungswegen gegen den Fachkräftemangel. Von rechts: Katharina Unger (CEO Livin Farms), Martin Moder (Molekularbiologe und Wissenschaftskabarettist), Barbara Weitgruber (Sektionschefin Wissenschaftsministerium), Sabine Herlitschka (CEO Infineon und IV-Vizepräsidentin), Thomas Sattelberger (Mint – Zukunft schaffen), Alexandra Bosek (Bundesschulsprecherin), Moderatorin Karin Bauer (DER STANDARD).

Foto: Ruth Altenburger

Scheitern an zu wenigen Bewerberinnen und Bewerbern – so geht es der Industriellenvereinigung zufolge jedem zweiten Unternehmen in Österreich, das hochqualifizierte Fachleute aus dem Mint-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) sucht. Wobei: Drei von vier Leitbetrieben im Land seien jetzt schon dem Technikbereich zuzuordnen, und bis 2025 werden in Österreich laut Arbeitsmarktservice und Institut für Wirtschaftsforschung Wifo 55.000 zusätzliche hochqualifizierte Mint-Positionen erwartet, zudem plus 29.000 im Bereich Information und Telekommunikation.

Die Lücke wird also schnell größer, was Unternehmen ihre Forschungs- und Innovationsleistung gefährdet respektive verunmöglicht. Aktuell graduieren in Österreich jährlich etwa 26.000 Mint-Absolventen von HTLs, Fachhochschulen und Unis, wobei der Frauenanteil in den technischen Fächern bei nur etwa fünf Prozent liegt. Die Anfängerzahlen stocken, die Abbruchquote ist mit bis zu rund 50 Prozent hoch. Gleichzeitig ist die öffentliche Stimmung nicht gerade im Aufbruchmodus: Nur 35 Prozent glauben laut Eurobarometer, dass Forschung und Entwicklung positive Arbeitsmarkteffekte hat.

Hunderte Initiativen, und?

Was ist da los? Warum klappt es nicht mit dem Zuzug der Jungen in diese beruflichen Bereiche, obwohl diese doch seit Jahren als gut bezahlt und voller Karrieremöglichkeiten ausgelobt werden, obwohl mit hunderten Initiativen – vom IT-Girl’s-Day bis zu Preisen, Förderungen, Stipendien – wirklich viel getan wird und Studienplätze ausgebaut werden?

Zum Auftakt der Technologiegespräche in Alpbach haben sich AIT und Industriellenvereinigung mit prominenten Expertinnen und Diskutanten eben diese Fragen gestellt. Unter dem dramatischen Titel der Keynote des als "Mr. Mint" titulierten Thomas Sattelberger, Gründer und Vorstandschef der deutschen Initiative "Mint Zukunft schaffen", ehemals Vorstand in verschiedenen Dax-Unternehmen und nun FDP-Abgeordneter mit Mint-Zuständigkeit. "Europa ohne Mint – Kontinent ohne Zukunft?", fragte Sattelberger.

Eine Antwort gab es nicht – dafür allerdings eine deutliche Analyse der Herausforderungen des großen Mangels, hinter dem er drei Treiber in Europa sieht: die digitale Transformation mit ihrem Skill Shift in allen Bereichen, die Dekarbonisierung und die Energiewende plus der demografischen Kurve mit weniger jungen Menschen.

Es sei mittlerweile auch ein neues Paradoxon entstanden: Unternehmen suchten Mint-Personal mit sehr guten nichtkognitiven Fähigkeiten, also den vielzitierten "21st century-skills" – Kreativität, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit. Das Angebot an mathematisch anspruchsvollen Stellen ohne diese Fähigkeiten sinke, weshalb ein Anstieg höherer Abschlüsse die Lücke nicht schließen könnte. Dazu geselle sich ein "Matching-Problem": Junge im Mint-Bereich strebten nach den höchstmöglichen Abschlüssen, Unternehmen hätten aber lieber mittlere Qualifikationen.

Abwanderung in Scharen

Als riesiges Problem bezeichnet Sattelberger den Brain-Drain, also die Tatsache, dass Österreich und Deutschland mehr bestens Ausgebildete in den Bereichen rund um künstliche Intelligenz an Nachbarländer mit attraktiveren Lebensangeboten (Schweiz, Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Finnland und USA) verliere, als man vom Ausland für Forschung gewinne. Viele Talentepools, etwa in ländlichen Gebieten oder solchen mit weniger gutem sozioökonomischem Hintergrund, blieben unerschlossen.

Junge Frauen, zeigt Sattelberger, wanderten nach wenigen Jahren in Unternehmen scharenweise wieder von dort weg. Durchschnittlich seien ohnedies nur 2,5 Prozent Frauen in den akademischen Mint-Belegschaften der Unternehmen zu finden. "Das ist auf den ersten Blick unerklärlich, die bittere Wahrheit ist aber klar." Und die heiße "cooling off". Was damit gemeint ist? 40 Prozent der Mint-Absolventinnen würden nicht in Unternehmen arbeiten oder recht schnell wieder gehen, weil Selbstzweifel, geschlechterstereotype Arbeit – Männer forschen, Frauen erledigen die Administration und die Organisation – und Machkulturen vorherrschten.

Nicht mehr, sondern anders

Brauchen wir mehr Mint-Bildung? Nein, sagt Sattelberger, wir brauchen eine andere, eine spielerische, selbstverständliche und experimentelle von der Elementarpädagogik bis zur Seniorenfortbildung. "Mint-Orientierung wird am Küchentisch entschieden, beim Frühstück, beim Abendessen", formuliert er den bestimmenden Einfluss der Eltern, der Familie auf die Hinwendung in bestimmte Ausbildungsrichtungen. Kognitive Aspekte würden insgesamt überschätzt, meint er, es gehe viel mehr um "prosoziale und altruistische Aspekte, also wie kann ich zur Lösung der globalen Herausforderungen sinnvoll beitragen?". (Karin Bauer, 4.9.2021)