Hüter der Kunst: Bermann (Raphael von Bargen, links) und Wergenthin (Alexander Absenger).

Foto: Ferrigato

Es bedarf mindestens eines beherzten Epochensprungs, um Arthur Schnitzlers unendlich vielschichtigen Roman Der Weg ins Freie (1908) herauf in die Gegenwart zu befördern. Lauter jüdische Einzelgänger bilden, zum vielstimmigen Orchester vereint, das Personal. Da gibt es die Grübler; assimilierungswillige Humanisten, die ihre eigene Herkunft als Grundlage für Bonmots gebrauchen. Man findet hier Zionisten unter Anpassungsdruck; leidenswillige Mediziner, angehende und erfolgreich ausübende Paranoiker. Vor allem Letztere behalten im Zeitalter des großen Antisemiten Karl Lueger niederschmetternd recht.

Und weil dem so ist, stehen die Figuren zu Anfang, auf der finsteren Bühne des Theaters in der Josefstadt, mit den Rücken zur Wand. Schon schmilzt die babylonische Vielfalt, die das jüdische Leben in Wien einst ausgemacht hat, zum bloßen Rechenmaterial zusammen. Den Fluchtpunkt bildet – unausgesprochen – die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Und so gehört es zu den nicht geringen Verdiensten von Janusz Kicas Inszenierung, die äußerst kontrovers geführten Dialoge wie durch einen unsichtbaren Schleier hindurch hörbar zu machen. Wenigstens solange der (etwas zu lange) Abend trägt.

Akribische Feder

Im Wiener Josefstadt-Theater hat die ungemein akribische Theaterfeder Susanne Wolfs ein zunächst leichtes, belebend zu Kopf steigendes Destillat des Romans hergestellt. Männer im Überzieher und im Frack gebrauchen im Salon des Industriellen Ehrenberg (Siegfried Walther) ihre dialogischen Mittel geschmeidig: wie elastisch federnde Hieb- und Stichwaffen. Eine wenig genützte Spielplatte sinkt aus dem Schnürboden herunter und versorgt die gehobene Gesellschaft mit Sitzgelegenheiten. Der Clou: Niemand mag sich auf ihnen breitmachen (Bühne: Karin Fritz).

Der Nihilist und Hypochonder Bermann (Raphael von Bargen) ist als Dichter mit Schreibhemmung kein stiller, sondern eher ein lauterer Brüter. Sein Freund, der bis zur Unverantwortlichkeit törichte Komponist Baron von Wergenthin (Alexander Absenger), scheint hingegen "in sich verloren". Seine arg mediokre, nichtjüdische Existenz wiederum bildet das rußgeschwärzte Okular für alle übrigen. Erst durch dieses Glas hindurch werfen sie aufeinander Blicke voller Lebensgier: die experimentelle Sozialistin (Katharina Klar), der lebensunpraktische Idealist (Oliver Rosskopf).

Wolf im Überzieher

Wergenthin, dieses große, egoistische Kind, versagt auf allen Linien. Sein Verhältnis mit der herb-widersetzlichen Anna Rosner (Alma Hasun) provoziert ein Desaster. Leider verliert der Abend mit Fortdauer an Stringenz: an Champagnerlaune, an Unerschrockenheit, an Fahrt. Die Dialogsituationen werden von Mal zu Mal hüftsteifer und erinnern an gemeinschaftlich angestrengte Lebertran-Verkostungen. Dabei steckt das Teuflische im Detail: in der Jovialität eines Antisemiten wie des Abgeordneten Jalaudek (Michael Schönborn). Ein Wolf im Überzieher. In solchen Skizzen erinnert Schnitzlers Stoff an uns: an unser pralles, zeitgenössisches Leben. Ihrer hätte es mehr bedurft. (Ronald Pohl, 3.9.2021)