August Pradetto: Der Politologe kam in Zeiten des Aufbruchs

Der Politologe August Pradetto kam in den 1970er-Jahren mit seiner Ehefrau, der Regisseurin Wilma Pradetto, zum Studieren an die Freie Universität (FU) Berlin. "Westberlin war damals das deutsche Zentrum einer politischen und kulturellen Umwälzung in der Gesellschaft", erinnert sich der 1949 in Graz Geborene, "das war eine aufregende Mischung aus Kaltem Krieg, jugendlicher Aufbruchsstimmung, einer für mich bis dahin unbekannten Vielfalt kultureller Einflüsse, einer unglaublichen Diversität von Menschen und Anschauungen, einer geradezu exzessiven Diskussions- und Streitkultur, die alle Bereiche umfasste, von der Mode über Musik und Kunst bis zu politischen Systemfragen und persönlichem Lebensstil. Ich empfand das als Bereicherung meines Lebens, die ich enthusiastisch begrüßte."

Trotzdem wollte Pradetto eigentlich nach dem Studium zurück nach Österreich. Doch nach beruflichen Stationen in Warschau und Wien kam ein "attraktives Angebot" der FU, und bald darauf die Berufung auf eine Professur für Internationale Beziehungen nach Hamburg. Als Lebenszeitbeamter war es da naheliegend, um die deutsche Staatsbürgerschaft anzusuchen, doch damit verlor Pradetto auch unfreiwillig seine österreichische Staatsbürgerschaft.

Bei der Bundestagswahl hofft er auf ein starkes Ergebnis der Grünen, "weil viele ihrer Politiker erstens problembewusster, zweitens implementierungswilliger und drittens weniger klientelabhängig sind als viele von Union, SPD und FDP. Über das Problembewusstsein und einen produktiven Veränderungswillen bei der AfD brauchen wir nicht zu reden."

Pradetto vor dem Berliner Corbusierhaus.
Foto: Lutz Jäkel

Klaus Mosettig: Der Künstler lebt seit 2020 in Berlin-Mitte

Der Künstler Klaus Mosettig ist bekannt für großformatige Zeichnungen wie die Werkserie The David Plates, die 2019 als Ergänzung zur Ausstellung Caravaggio und Bernini im Kunsthistorischen Museum Wien gezeigt wurde. Er landete vor einem Jahr in Berlin, weil seine Freundin dort lebt. Eigentlich hatte der 46-jährige gelernte Bildhauer "Berlin nie am Schirm. Alle wollten immer nach Berlin – ich hab mir gedacht, gleiche Sprache, gleiches Klima, das interessiert mich nicht." Was ihn zunächst stresste, waren die großen Distanzen, doch im Hansaviertel, wo sich Mosettig eine kleine Wohnung kaufte und selbst renovierte, fühlt er sich wohl.

Sein Atelier in Wien behielt er und arbeitet dort, wenn er in Wien ist, bis zu 14 Stunden am Tag. In Berlin fühlt er sich aber mittlerweile zu Hause. Im Hansaviertel, wo sich namhafte Architekten nach dem Zweiten Weltkrieg verwirklichen konnten, fand er den Ort, den er für sich als "Teil des Zentrums von Berlin" definiert, und genießt den Blick ins Grüne. Ganz wichtig: "Mit dem Rad geht sich von hier alles schnell aus."

So sehr er das Hansaviertel liebt, so sehr kritisiert er aktuelles Bauen: "Jetzt bauen sie schon sehr schirch in Berlin, es geht nur um Kapitalmaximierung und darum, was gut ankommt bei Quadratmeterpreisen von 10.000 Euro." Was er besonders mag: "Ich finde Berlin doch viel internationaler und offener als Wien." Im Gegensatz zu anderen schaue er sich aber in der Stadt relativ wenig an. "Ich arbeite eigentlich meistens zu Hause. Ich bin gerne allein."

Mosettig daheim im Hansaviertel.
Foto: Lutz Jäkel

Peter Fuchs: Der Krimiautor liebt die dörflichen Kieze

Vor 13 Jahren zog der Journalist und Autor Peter Fuchs, der in Graz aufwuchs, nach Stationen in Wien und München nach Berlin. Heute will der 53-Jährige hier nie mehr weg. Er mag an Berlin, "dass es für alles eine Community gibt: Wenn du auf kopfstehende Gartenzwerge in Latex stehst, findest du hier wahrscheinlich einen Verein dafür. Und als Berliner gilt, wer in Berlin wohnt. In München kannst du 30 Jahre sein, und dann reden sie einmal darüber."

Außerdem schätze er, "dass es so groß und von ganz vielen Nationen bevölkert ist". Fuchs läuft viel und hört dabei Mütter in so vielen Sprachen mit ihren Kindern reden, "wie ich das sonst nur von der Uno-City in Wien kenne".

Gleichzeitig genieße er die "fast dörfliche Atmosphäre" in den Kiezen. Etwa in Schöneberg, wo er lange lebte. "Die Bäckerin schaute schon immer aus dem Fenster, ob ich mit oder ohne Rad da war, weil sie dann meine Schrippen anders für mich einpackte", erzählt Fuchs gerührt. In Schöneberg spielt auch sein 2019 erschienener Krimi Schöneberger Steinigung (Querverlag), in dem ein Mörder zwischen Flüchtlingsheimen, Rechtsextremen und der LGBT-Community gesucht wird. "Es ist tatsächlich ein Regionalkrimi, und ich war in zwei Buchhandlungen in Schöneberg wochenlang auf den Bestsellerlisten unter den ersten sechs", sagt Fuchs. Der nächste Krimi wird Schöneberger Schmerz heißen und 2022 erscheinen.

Politik und der Wahlkampf seien für ihn "ganz, ganz wichtig, ich weine jede Nacht in mein Kopfkissen, sag ich schon ganz deutsch statt Kopfpolster, weil ich auf Bundesebene nicht wählen darf".

Fuchs am Schöneberger Nollendorfplatz. Die Kuppel im Hintergrund ziert auch das Cover seines Krimis Schöneberger Steinigung.
Foto: Lutz Jäkel

Gerhild Steinbuch: Die Sprachkünstlerin hofft auf Allianzen

Die österreichische Autorin und Dramatikerin Gerhild Steinbuch hat zwar seit 2019 eine Professur für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien, sie lebt aber schon seit 2007 in Berlin. Erstens seien damals Freundinnen und Freunde dort hingezogen, zweitens habe sie die Theaterlandschaft Berlins mehr interessiert. Sie schätze das ungestörte Arbeiten, den inhaltlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und das Angebot an Veranstaltungen, aber auch "die Weite und Anonymität und die Joggingstrecken", erzählt Steinbuch, die Teil von "Nazis und Goldmund", einer "Autor*inneninitiative gegen die europäische Rechte", ist.

Steinbuch bedauert, in Deutschland nicht wählen zu können. Besonders störe sie daran, "dass ich ein Mensch von zehn Millionen Menschen in Deutschland bin, die dort leben, aber nicht wählen dürfen. Studien zeigen außerdem, dass Kinder von Nichtwahlberechtigen sich auch selbst weniger politisch engagieren oder an Wahlen teilnehmen, selbst wenn sie berechtigt sind." Sie unterstütze daher die bundesweite Kampagne "Die Parlamente den Vielen", wo es genau darum gehe.

Sie blickt bangend und hoffend auf die Wahl am 26. September. Einerseits fürchtet sie sich vor einem "Zuwachs auf Seite der menschenfeindlichen, rechtsextremen, roh-bürgerlichen Positionen und damit verbundenen politische Entscheidungen in Bezug auf Innen-, Asyl- und Klimapolitik". Steinbuch hofft aber auf "Allianzen und zivilen Ungehorsam".

Kreuzbergerin Steinbuch am Kotti. Am 24. September hat sie mit "Die Vorüberlaufenden" Uraufführung in der Deutschen Oper.
Foto: Lutz Jäkel

Andreas Spechtl: Der Musiker fühlt sich in Neukölln wohl

Für den Autor und Musiker Andreas Spechtl war es "ganz natürlich", dass er vor 14 Jahren nach Berlin zog. Seine Band Ja, Panik wurde in Österreich überhaupt erst richtig wahrgenommen, "da waren wir schon am Spex am Cover, und das deutsche Feuilleton schrieb über uns".

Dass er sich so herzlich in Berlin aufgenommen fühlte, lag auch an der Sängerin Christiane Rösinger (vormals Lassie Singers, später Britta), die die "Buben" von Ja, Panik quasi adoptierte, erzählt Spechtl. "Ich hab in Berlin zuerst im Kinderzimmer ihrer gerade ausgezogenen Tochter gewohnt." Heute lebt Spechtl in Neukölln, wo "auch immer mehr junge Leute aus dem Süden Europas, aus Italien oder Spanien, leben". Hier könnten gerade Leute, die wie der 37-jährige Burgenländer aus kleinen Orten kommen, unhinterfragt ihre Kunst machen, "ohne sich wie ein Solitär zu fühlen". Anfangs ging das zu relativ günstigen Mieten, weiß Spechtl, "aber das ist vorbei". Dass der Mietendeckel der Stadt gekippt wurde, sei ein Skandal. Andererseits gebe es immer noch mehr unbefristete Mietverträge als zum Beispiel in Wien.

Spechtl betont: "Ich lebe in Berlin, nicht in Deutschland." Als er etwa während der Lockdowns mehrere Monate aus Berlin wegging, "weil alles, was ich hier so mag, wegfiel", ging er ins Burgenland, wo er noch Familie hat. "Die näher liegende Uckermark kenne ich eigentlich gar nicht", erklärt Spechtl.

Dass er nur auf Bezirksebene wählen darf, stört auch Spechtl "als politischen Menschen. Man müsste das in Europa überdenken, vielleicht sollten nicht nur die Grenzen, sondern auch die Staatsbürgerschaften fallen."

Andreas Spechtl in der Sonnenallee.
Foto: Lutz Jäkel

Christian Ankowitsch Unternehmer und Autor mit Heimweh

Was ihm manchmal abgehe, sei "dieses typische Schmähführen der Österreicher", sagt Christian Ankowitsch (62) fast wehmütig in der Sonne vor seinem Schöneberger Geschäft für Kaffeezubehör, Moka Consorten, sitzend. Der Journalist und Autor, der auch beim STANDARD war, bevor er vor Jahrzehnten zuerst nach Hamburg zur Zeit, dann nach Berlin zog, schätzt den "trockenen, aggressiven Humor" der Berliner und hat auch gleich ein Beispiel parat: Als er neu in Berlin war, fragte er einen Passanten, wo das Postamt sei. Die Antwort: "Mir doch egal!"

Mit Ossis, also den einstigen DDR-Bewohnern, hätten viele Ösis übrigens gemeinsam, dass sie sich den Wessis gegenüber ein bisschen unterlegen fühlen. "Deutschland existiert nicht", konstatiert Ankowitsch, der dem Publikum des Bachmannpreises auch als Juryvorsitzender bekannt ist. Es gebe Hamburg, Berlin, Bayern etc., aber kein einheitliches Land. In Berlin, wo er noch keinen Tag im Osten der Stadt gelebt hat, weil "mir der bürgerliche Westen viel näher ist", fühlen sich Menschen schon wie in einem neuen Land, wenn sie nur in einen anderen Bezirk gehen. Und beim Schlüsseldienst seines Vertrauens habe man neulich bedauert: "Die Maschine ist kaputt, die haben wir nach Westdeutschland geschickt." 32 Jahre nach dem Mauerfall.

Mit der rot-rot-grünen Stadtregierung ist Ankowitsch sehr unzufrieden, und auf Bundesebene wüsste er nicht, wen er wählen sollte. "Außer vielleicht mit Bauchweh FDP." (Colette M. Schmidt, 4.9.2021)

Ankowitsch in seinem Kaffeezubehörladen.
Foto: Lutz Jäkel