Schrullig und impulsiv: eine souveräne Olivia Colman in Maggie Gyllenhaal Regiedebüt "The Lost Daughter".

Foto: YANNIS DRAKOULIDIS

Die ersten Tage des Filmfestivals Venedig erwiesen sich als Schaulauf der Vielfalt des Gegenwartskinos. Das hat gerade jetzt, da sich die Filmbranche langsam aus den Verwerfungen der Corona-Krise wieder neu aufzustellen beginnt, viel Symbolkraft. Bezeichnend dafür ist, dass man am Lido – anders als in Cannes – auch mit einem Blockbuster wie Dune aufwarten kann, einem der populären Highlights des Kinoherbstes.

Villeneuve hatte zuletzt mit Blade Runner 2049 schon einen Science-Fiction-Klassiker revitalisiert, nun hat er sich Frank Herberts Romanklassiker über den Wüstenplaneten vorgenommen, der 1984 schon von David Lynch verfilmt wurde, damals aber zum Flop geriet. Seiner Neuversion merkt man von Anfang an, dass er der Saga rund um den Planeten Arrakis, auf dem "Spice" abgebaut wird, eine Wundersubstanz, die auch für Raumfahrt genutzt wird, eigenständiges Profil geben will: Unheilschwanger, pathosschwer sind die Bilder.

Wüstenplanet

Dune ist als Mehrteiler-Franchise konzipiert, und so nimmt sich der Film auch Zeit, um die Konfliktlinien herauszuarbeiten. Dann erhöht sich die Zugkraft. Mit dem von Timothée Chalamet verkörperten Paul Atreides, dem Herzogssohn, der langsam eine Idee von seiner Rolle als Führer entwickelt, verfügt er über einen untypisch knabenhaften, charismatischen Helden.

Visuell demonstriert Villeneuve seine Profiqualitäten: Den Wüstenplanet rückt er in imposanten Panoramen ins Bild, gewitzt spielt er mit den Größenunterschieden, wenn die gigantischen Sandwürmer und technische Ungetüme auf allerlei Miniaturausgaben treffen. Auch die Actionszenen variieren abwechslungsreich, Messerkämpfe, groß orchestrierte Schlachten, alles da. Es scheint ausgemacht, dass sich dieser Dune besser machen wird.

Frauen im Mittelpunkt

In dem mit Almodóvar schon stark gestarteten Wettbewerb kristallisierte sich ein erstes durchgehendes Thema heraus. Ihre Sensibilität für Frauenfiguren, die sich aus den ihnen Rollenmustern zu befreien versuchen, verbindet gleich mehrere Filme. Kristen Stewart gibt in Pablo Larraíns Spencer eine Lady Di, die sich Weihnachten 1991 in Norfolk bereits vollkommen in den Part der widerspenstigen Prinzessin eingepfercht hat. Zu jeder Zusammenkunft erscheint sie zu spät, meist in falscher Garderobe.

Der Clou von Spencer liegt darin, dass Lady Di wie in einem Einpersonenstück agiert, alle anderen spielen Statistenrollen. Das erscheint insofern folgerichtig, als ihr Handicap eher systemisch ist – als Royal ist man, wie es heißt, eine "currency", eine Währung. Umgekehrt schränkt dies den in bewusst glanzlosen Bildern inszenierten Film auch ein, denn dramatische Entwicklung gibt es in diesem Psychogramm eigentlich kaum.

Vielschichtiger erweist sich das Regiedebüt der US-Schauspielerin Maggie Gyllenhaal, die mit The Lost Daughter einen Roman von Elena Ferrante adaptiert hat. Der Film setzt zwei Lebensphasen der Romanistin Leda raffiniert zueinander in Beziehung, wobei sich die Rückblenden auf die junge Mutter (Jessie Buckley), die auch ihre Karriere nicht aufgeben will, mit der Zeit zu einem eigenen Erzählstrang erweitern.

Schrullig und impulsiv

Olivia Colman spielt sie dann gewohnt souverän als 48-Jährige, die sich bei einem Urlaub in Griechenland in Begegnungen mit anderen Gästen als schrullige, impulsive Person entpuppt. Gyllenhaal inszeniert die innere Unruhe dieser Frau, deren Motive sich nicht gleich entschlüsseln lassen, bezwingend indirekt, indem sie ihre Figur oft im Beobachtermodus lässt. Statt Leda restlos zu ergründen, spürt sie die Risse auf, die aus ihrer Entscheidung erwuchsen, nicht nur für ihre Kinder da zu sein.

"Ich finde, die Mädels machen sich richtig gut", so kommentierte Jane Campion schon am Tag zuvor die jüngsten Erfolge von Chloé Zhao und Julia Ducournau. Mit The Power of the Dog, der Verfilmung des eines Romans des US-Autors Thomas Savage, hat sich die Neuseeländerin nun dem Anschein nach in eine Männerdomäne begeben. Das euphorisch aufgenommene Drama um zwei Brüder, die im Montana der 1920er-Jahre eine Farm betreiben, arbeitet nuanciert gegen die Westernmythologie an, indem es männliche Archetypen wie den harten Kerl aus dem Sattel hebt, auf zwei unsichere Beine.

In The Power of the Dog sind Gesellschaftsmodelle noch ungefestigt, Rollenmuster nur auf den ersten Blick voll herausgebildet. Mit ihrem Sinn für haptische Bilder konfrontiert Campion Zivilisation und Wildnis, Verletzlichkeit und Gewalt. Und Benedict Cumberbatch liefert als zerrütteter Cowboy Phil eine Performance des Jahres. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 3.9.2021)