Panjshir ist die einzige Provinz in Afghanistan, die die Taliban bisher nicht kontrollieren.

Foto: AFP/AHMAD SAHEL ARMAN

Kabul – In Afghanistan haben sich Kämpfer der Taliban und ihrer im Panjshir-Tal verschanzten Gegner weitere Gefechte geliefert. Nachdem es am Freitag in Kreisen der Taliban geheißen hatte, die schwer zugängliche Provinz sei erobert worden, gab es am Samstag noch keine offizielle Stellungnahme vonseiten der Taliban. Die Nationale Widerstandsfront von Afghanistan (NRFA), in der sich Kräfte unter dem Milizenführer Ahmad Massud zusammengeschlossen haben, erklärte indes, sie habe einen Vormarsch der Taliban zurückgeschlagen. "Die Verteidigung der Festung von Afghanistan ist unzerstörbar", sagte NRFA-Sprecher Fahim Daschti am Samstag.

Seit mittlerweile fünf Tagen gibt es im Panjshir-Tal Gefechte zwischen den Taliban und Kämpfern der Nationalen Widerstandsfront. Ursprünglich hatte es von beiden Seiten geheißen, man wolle die offene Machtfrage durch Verhandlungen lösen. Ein Sprecher der Nationalen Widerstandsfront schrieb diese Woche auf Twitter, die Taliban hätten Massoud einen Posten in der künftigen Regierung angeboten und den Schutz seines Eigentums. Dieser habe aber abgelehnt und dies damit begründet, dass er keine persönlichen Interessen verfolge.

Das Panjshir-Tal nordöstlich von Kabul ist in dem Vielvölkerstaat eine Hochburg der Tadschiken. Ahmad Massud ist der Sohn eines der wichtigsten Anführer im Krieg gegen sowjetische Truppen in den 80er Jahren, die das Tal nicht unter ihre Kontrolle bringen konnten. Während der ersten Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 war es Massuds Vater ebenfalls gelungen, Angriffe der Islamisten abzuwehren.

Blutige Szenen in Kabul

Nach Berichten aus Taliban-Kreisen über eine Eroberung des Tals am Freitag war es in Kabul zu Jubelszenen gekommen. Bei Freudenschüssen kamen Medienberichten zufolge mindestens 17 Menschen ums Leben. 41 weitere Personen seien verletzt worden. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Kämpfe im Panjshir-Tal haben die Taliban die Bekanntgabe ihrer neuen Regierung erneut verschoben.

Unterdessen gab es Medienberichte über ein Treffen von Pakistans Geheimdienstchef Faiz Hameed mit dem pakistanischen Botschafter in Kabul. Es wurde angenommen, dass der Geheimdienstchef dort auch mit führenden Taliban-Vertretern Gespräche führte; Pakistan pflegt seit jeher gute Beziehungen zu den Islamisten.

In Kabul protestierten den zweiten Tag in Folge Frauen für eine Beteiligung an der Regierung. Dabei kam es zu Zusammenstößen. Mindestens eine Frau sei dabei verletzt worden, berichteten lokale Journalisten am Samstag. Sie teilten das Video einer Frau, der Blut vom Kopf läuft. Videos von lokalen TV-Sendern und Aktivistinnen zufolge kam es bei der Demonstration zu chaotischen Szenen. Rund zwei Dutzend Frauen hatten zunächst friedlich in der Nähe des Präsidentenpalastes demonstriert, wie auf in sozialen Medien geteilten Bildern zu sehen war.

Sie hielten Schilder in der Hand, auf denen etwa "Wir sind nicht die Frauen von vor 20 Jahren" stand oder "Gleichheit – Gerechtigkeit – Demokratie!". Auf Videos ist dann zu sehen, wie die Frauen von 50 oder mehr Sicherheitskräften der Taliban umzingelt sind und sich Schreiduelle mit Taliban liefern. Mehrere von ihnen husten. Während des Taliban-Regimes zwischen 1996 und 2001 durften Frauen in Afghanistan nicht mehr arbeiten und nur noch verschleiert in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds das Haus verlassen. In der Öffentlichkeit war für sie lautes Sprechen oder Lachen verboten. Mädchen wurden auch vom Schulunterricht ausgeschlossen. Viele Frauen befürchten seit der erneuten Machtübernahme der Islamisten, dass diese wieder ähnliche Regeln für sie einführen werden.

Uno-Geberkonferenz und Wiederaufnahme von Flugbetrieb

Die Uno warnt unterdessen vor einer humanitären Katastrophe in Afghanistan. Uno-Generalsekretär Antonio Guterres berief daher für den 13. September in Genf eine internationale Geberkonferenz ein. In Genf solle auf hochrangiger Ebene eine rasche Aufstockung von Hilfsgeldern vereinbart werden. Nach der Machtübernahme der Taliban ist Afghanistan isoliert und die Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs. Bereits zuvor hatte das Land mit den Folgen einer schweren Dürre zu kämpfen und war in hohem Maße von Hilfslieferungen aus dem Ausland abhängig. Hilfsorganisationen zufolge könnten nun Millionen von Afghanen von Hunger bedroht sein.

Am Samstag konnte der für Hilfslieferungen wichtige Flughafen Kabuls wieder in Betrieb genommen werden – er war seit dem Ende des US-Rückzugs geschlossen. Die Startbahn sei in Zusammenarbeit mit afghanischen Behörden repariert worden, vermeldete der katarische Botschafter. Der Sender berichtete außerdem, Inlandsflüge in die Städte Masar-i-Scharif und Kandahar seien wieder aufgenommen worden. Das Emirat Katar hatte angekündigt, gemeinsam mit der Türkei und den Taliban an einer Wiederinbetriebnahme des Flughafens zu arbeiten.

Damit steigt die Hoffnung auf die Einrichtung von humanitären Hilfskorridoren und eine Fortsetzung der Evakuierungsaktionen von ausländischen Staatsbürgern und afghanischen Ortskräften. Brasilien gab bekannt, Menschen aus Afghanistan unter bestimmten Bedingungen humanitäre Visa zu erteilen. Dies gilt etwa für Menschen, die von "schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte" betroffen sind.

"Weckruf für Europa"

Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire hat die Entwicklung in Afghanistan indes als einen "Weckruf für Europa" bezeichnet. Europa müsse neben China und den USA die dritte Supermacht werden, sagte Le Maire am Samstag in Cernobbio. "Wir können uns nicht mehr auf den Schutz der USA verlassen", erklärte er und sprach sich für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben aus. Außerdem müssten die EU-Mitgliedstaaten den gemeinsamen Markt vertiefen, um technologisch unabhängig von Firmen in Übersee und Drittländern zu werden. (red, Reuters, APA, 4.9.2021)