STANDARD: Es heißt, selbst das medizinische Personal sei besorgt über die aktuelle Lage auf den Stationen. Spitzt sich die Lage in Österreich bereits zu?

Arschang Valipour: Es ist tatsächlich so, dass wir derzeit mehr Covid-Intensivpatientinnen und -patienten haben als etwa zur selben Zeit im Jahr zuvor. Und das, obwohl die Schulen noch gar nicht geöffnet haben. Das ist sicherlich der Grund, weshalb viele Kolleginnen und Kollegen befürchten, dass die Situation diesen Herbst noch angespannter sein könnte.

STANDARD: Teilen Sie diese Besorgnis?

Valipour: Ich persönliche sehe dieser Entwicklung mit gewisser Sorge entgegen und bin skeptisch, ob der Bevölkerung wirklich bewusst ist, was da auf uns alle zukommt. Wir haben bereits eine sehr hohe Auslastung auf den Intensivstationen, und die wird sich weiter verdichten. Der nächste logische Schritt wird es sein, größere planbare Operationen zu verschieben – auch wenn das bislang noch nicht explizit ausgesprochen wurde. Damit schafft man wieder Kapazitäten für Covid-Patienten.

Viele Ungeimpfte haben auch gewisse Risikofaktoren wie Übergewicht oder Bluthochdruck. Das erhöht die Gefahr eines schweren Verlaufs, sagt Arschang Valipour.

STANDARD: Heißt das, die Krankenhäuser und Intensivbetten sind "bald voll"?

Valipour: Grundsätzlich gibt es einen Stufenplan. Das bedeutet: Je mehr Patientinnen und Patienten versorgt werden müssen, desto mehr Ressourcen müssen wir schaffen. Das geht aber nur dort, wo wir auch planen können. Würden wir – aus heutiger Sicht – weitermachen wie bisher, wären wir, wie man so schön sagt, relativ bald voll. Wir müssen planbare Eingriffe reduzieren, um Kapazitäten zu schaffen. Das macht benötigte Intensivbetten frei, um die akutmedizinische Versorgung von Covid-Patienten, aber auch Non-Covid-Patienten zu garantieren.

STANDARD: Wie lange liegen Betroffene derzeit auf Intensivstationen?

Valipour: Gleich vorweg: Oft werden die Daten einfach zusammengefasst und der Durchschnitt berechnet – das ist aber nicht repräsentativ. Es gibt nämlich Abstufungen, Intermediärstationen und Intensivstationen. Liest man Statistiken zur Bettenauslastung, geht nicht immer ganz klar hervor, um welche durchschnittliche Belagsdauer es in welcher Einheit geht. Die Intensivstation ist die höchste Form der intensivmedizinischen Behandlung. Dort liegt die durchschnittliche Liegedauer einer Covid-Patientin oder eines Covid-Patienten bei mindestens zwei, wenn nicht sogar drei oder vier Wochen.

Auf den Intermediärstationen ist das deutlich kürzer. Dort findet man zwar Patientinnen und Patienten, die durchaus überwachungspflichtig sind und gewisse Atemunterstützung erhalten müssen, aber noch keine künstliche Beatmung bekommen. Auf diesen Stationen ist die Liegedauer deutlich kürzer, nämlich in der Größenordnung zwischen fünf und sieben Tagen. Vermischt man diese Zahlen, kommt es zum Teil zu den nicht nachvollziehbaren Zahlen, die in den Medien kursieren. Dort liest man dann von einem 14-Tage-Schnitt. Ein Intensivmediziner wird Ihnen aber sagen, dass Patientinnen und Patienten teilweise sechs Wochen liegen, weil sie beispielsweise eine Herz-Lungen-Maschine benötigen. Daher muss man bei den Zahlen auch genau hinschauen, um sie auch richtig vergleichen zu können.

STANDARD: Sind es zunehmend Kinder, die ins Spital kommen?

Valipour: Die Stadt Wien bereitet sich darauf vor, dass vermehrt Kinder spitalspflichtig werden, und auch der Wiener Gesundheitsverbund rechnet damit. Dass es dazu kommen wird, ist eine Entwicklung, die aufgrund verschiedener Modelle prognostiziert wurde. Aus jetziger Sicht ist es noch nicht so weit, aber die Schulen öffnen erst, und Kinder treffen sich jetzt erst mit anderen Kindern.

STANDARD: Ist die Schwere der Verläufe auf die Delta-Variante zurückzuführen?

Valipour: Man weiß, dass eine Infektion mit der Delta-Variante mit einer sehr viel höheren Viruslast einhergeht. Zudem haben viele Bevölkerungsgruppen, die noch nicht geimpft sind, nach wie vor gewisse Risikofaktoren – wie schweres Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck. Treffen diese Faktoren aufeinander, erhöht das natürlich auch die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf.

STANDARD: Können Sie die Besorgnis in der aktuellen Debatte nachvollziehen?

Valipour: Ich kann die Sorge, dass wir auf eine ähnliche Problematik wie im vergangenen Jahr zugehen, durchaus nachvollziehen. Ich halte sie auch für berechtigt. Sie ist nur insofern bedauernswert, weil sie vermeidbar gewesen wäre – durch eine deutlich höhere Impfquote.

STANDARD: Mangelt es an Solidarität oder an Verantwortung in der Bevölkerung – nicht nur sich selbst, sondern auch anderen gegenüber?

Valipour: Das wird sicherlich eine Diskussion sein, die wir führen werden und zum Teil schon spüren – beispielsweise in den sozialen Medien, aber auch in persönlichen Gesprächen. Das Unverständnis der geimpften Bevölkerungsgruppen wird wachsen, spätestens wenn Patientinnen und Patienten oder deren Angehörige von einer Leistungsreduktion betroffen sind aufgrund von ungeimpften Covid-Patienten – beispielsweise bei verschobenen Operationen.

STANDARD: Wie äußert sich das im Krankenhausalltag?

Valipour: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Angehörigen, der unbedingt eine größere Operation benötigt, etwa eine Wirbelsäulen-OP. Dieser Eingriff kann dann nicht durchgeführt werden, weil die Bettenkapazitäten im Norm- oder Intensivbettenbereich für Covid-Patienten reserviert sind. Das führt unweigerlich zu Diskussionen.

STANDARD: Was muss getan werden, um mehr Menschen von der Impfung zu überzeugen?

Valipour: Wichtig ist, jetzt nicht weiter zu einer gesellschaftlichen Spaltung beizutragen, sondern jene zu überzeugen, die man noch nicht erreicht hat. Die Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik ist es, noch viel intensiver auf ungeimpfte Zielgruppen zuzugehen und spezifische Maßnahmen zu setzen. Es wird schon viel getan, aber man muss mehr tun. Die Initiative jedes Einzelnen ist gefordert. Ich selbst nutze jede Möglichkeit, auf die Vorteile der Impfung hinzuweisen. Als Lungenfacharzt und Intensivmediziner bin ich gewohnt, viel Überzeugungsarbeit zu leisten, und so werde ich auch nicht müde, Patienten darauf hinzuweisen, mit dem Rauchen aufzuhören. (Julia Palmai, 6.9.2021)