Seine Stärke bezieht der Bundeskanzler auch aus der Schwäche der politischen Konkurrenz, sagt der Kulturwissenschafter Christoph Landerer im Gastkommentar.

Höflich im Auftritt: Der "politische Vollprofi" Sebastian Kurz bezieht seine Stärke auch aus der Schwäche der politischen Konkurrenz.
Foto: Imago/Martin Juen

Die Umwelt der Zecke, so der Ökologe Jakob Johann von Uexküll vor hundert Jahren, besteht aus drei Wahrnehmungskomponenten: oben – unten, warm – kalt, Buttersäure: ja oder nein. Nicht sehr viel komplexer sind politische Debatten häufig in Österreich organisiert. Sie bewegen sich entlang der Diskussionslinien rechts – links, erregt – beherrscht, Kurz: ja oder nein.

Dass politische Diskussionen in Österreich äußerst polarisiert ablaufen, ist nichts Neues. Die Lagerbildung ist ein Erbe der Zwischenkriegszeit, sie wurde durch den Proporz der Zweiten Republik konserviert und durch nicht funktionierenden politischen Wechsel weiter befestigt. Bereits Jörg Haider hat die Wählerschaft in Anhänger und erbitterte Gegner gespalten, Wolfgang Schüssels schwarz-blaue Koalition rief selbst die europäischen Partner auf den Plan. Als Schüssels politischer Ziehsohn hat Sebastian Kurz auch die Polarisierung geerbt, für seine Gegner ist er in gewisser Weise Schüssel und Haider zugleich.

Lustvolle Abschottung

Dabei hat sich seit der Nationalratswahl 1999, die Haiders FPÖ erstmals auf Platz zwei hievte, wenig geändert. Die Kurz-Kritiker wiederholen alle Fehler, die sie schon im Umgang mit Haider begangen haben. Schmunzeln lässt sich vielleicht noch über den Hang vieler Kurz-Verächter, den Namen des Kritikobjekts zu tilgen und ihn durch mehr oder minder respektbefreite Umschreibungen zu ersetzen; von "Maturant" bis "Baby-Hitler" wurde die gesamte Klaviatur bespielt. "Polemik auf dem Niveau einer Maturazeitung, die in seltsamem Widerspruch stand zu dem Dämon, den man damit bannen wollte", nannte Konrad Paul Liessmann analoge Kreativitätsausbrüche bereits 1999.

Schwerer wiegt dagegen die bisweilen lustvoll zelebrierte Abschottung in intellektuellen Echokammern, die zwar hohe Expertise darin entwickeln, das Sündenregister des Kritisierten herunterzubeten, aber keinerlei Interesse an den umfangreicheren Aspekten der Sache zeigen, um die es eigentlich geht. Auch die politische Figur Kurz lässt sich nur im Vergleich bewerten; sein Erfolg hat größere Themenlagen zur Voraussetzung (die mitunter auch abwägend beurteilt werden müssen), das schmale politische Angebot insgesamt und die Performance der Mitbewerber.

Je unsachlicher die Kritik aber operiert, umso mehr stützt sie den Kritisierten, da sie Verteidigungsreflexe bei jenen hervorruft, die vielleicht nicht eingefleischte Kurzianer sind, aber auch nicht dem Lager der wild entschlossenen Anti-Kurzisten angehören. Für den Kritisierten hat diese Diskurslage nur Vorteile: Er wird durch das Ausbleiben differenzierterer Kritik geschont und muss vieles gar nicht erst parieren – und er profitiert durch eine permanente Ablenkung von einer sachpolitischen Ebene, die man dann, wenn man mit Kritik etwas bewegen will, auch möglichst sachlich diskutieren müsste. Die türkise Steueragenda, aus klassisch-linker Sicht der logische Kernbereich der Kritik, gerät so oft fast völlig aus dem Blick.

Größere Vision

Warum, so werden sich manche nach der Lektüre von Elsbeth Wallnöfers Anti-Kurz-Suada ("Wir sind die Nation") auch gefragt haben, soll Kurz eigentlich nicht – neben Leopold Figl und Schüssel – auch Bruno Kreisky als "politisches Vorbild" nennen dürfen?

Ebenso wie Kreisky und nach ihm Schüssel verfolgt Kurz ein längerfristiges strategisches Kalkül, das auf politische Hegemonie durch Unterstützung kleiner Gelegenheitspartner ausgerichtet ist; im politischen Angebot der 1970er- und 1980er-Jahre kam dafür nur die FPÖ infrage, die bereits Kreisky für solche Zwecke aufbaute – ohne die Wahlrechtsreform von 1970 wäre sie im Lauf der folgenden Jahre vielleicht sogar verschwunden.

Freilich war auch Kreisky zu Zugeständnissen gezwungen, eine "liberale Ausländerpolitik" wird man auch bei ihm nicht finden. Anders als Kurz gestaltete Kreisky seine Politik aber mit dem Ziel einer Modernisierungsagenda und damit auch einer größeren Vision, die man bei Kurz vergeblich suchen wird. Aber wir leben auch nicht mehr in der Zeit vor der Globalisierung, und der Spielraum der Nationalstaaten ist begrenzt. Nennenswertes Interesse an der Stärkung der europäischen Ebene hat freilich auch Kurz nicht ausgedrückt, und das ist wohl eher noch zurückhaltend ausgedrückt.

Schwäche der Konkurrenz

Was immer man über Kurz denken und wie auch immer man politisch zu ihm stehen mag, eines ist er bestimmt: ein politischer Vollprofi, der seine Stärke auch aus der Schwäche der politischen Konkurrenz bezieht. Als einzigen echten politischen Profi hatte die SPÖ nach der Jahrtausendwende nur noch den farblosen Werner Faymann aufzubieten, die FPÖ limitiert ihr politisches Potenzial durch Inkompetenz im Regierungsgeschäft und periodische interne Querelen.

Kurz beherrscht – für einen österreichischen Spitzenpolitiker nicht unbedingt üblich – die Kunst der plastischen, unverschnörkelten Rede, und er versteht es, auf eine Weise aufzutreten, die Wähler gewinnt: bestimmend, aber höflich, emotional kontrolliert, mit Umgangsformen, die man in Österreich als angenehm empfindet. Dass er dabei auch politisch vielleicht mehr Hülle ist als Kern, wird ihm so lange nicht schaden, solange die politische Konkurrenz keinen Herausforderer von vergleichbarer Statur hervorbringt. (Christoph Landerer, 6.9.2021)