Tim Cook schwört auf Privacy. Manchmal.

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Selten hat sich ein Unternehmen dermaßen gründlich verschätzt. Da tritt Apple Anfang August mit dem Versprechen an, etwas gegen die Verbreitung von Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu unternehmen – also mit einem Thema, bei dem sich grundsätzlich alle einig sind –, und dann das: Statt Zustimmung hagelt es scharfe Kritik. Interessenverbände forderten Apple umgehend zur Rücknahme der Pläne auf, Privatsphärenverfechter warnten davor, dass der iPhone-Hersteller damit die sprichwörtliche Büchse der Pandora öffne.

Der Vorwurf des Verrats

Am deutlichsten wurde allerdings NSA-Whistleblower Edward Snowden, der Apple öffentlich vorwarf, der Privatsphäre den Krieg zu erklären. Angesichts dieses massiven Gegenwinds passierte vor wenigen Tagen etwas, was man von dem Unternehmen aus Cupertino sonst so gar nicht kennt: ein Rückzieher. Das System solle in dieser Form vorerst nicht kommen, heißt es nun plötzlich. Stattdessen geht es zurück ans Reißbrett, mithilfe von externen Experten soll die gewählte Lösung grundlegend hinterfragt werden.

Im Zentrum der Kritik steht dabei vor allem ein Punkt aus Apples Maßnahmenpaket: Direkt auf dem iPhone der Nutzer sollte künftig nach Darstellungen von Kindesmissbrauch gesucht und deren Besitzer im Fall des Falles an die Behörden gemeldet werden.

Stufenweise Überprüfung

Um die Privatsphäre der Nutzer dabei nicht zu verletzen, habe man sich ein ausgeklügeltes System einfallen lassen, versicherte Apple. Das US-amerikanische National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) liefere eine Datenbank, die Informationen zur eindeutigen Identifizierung entsprechender Bilder enthält. Diese Liste werde dann mit den lokalen Fotos am Gerät abgeglichen, erst wenn es hier mehrere Übereinstimmungen gebe, erfolge eine Meldung. Doch selbst dann würden die entsprechenden Aufnahmen zunächst einmal nur zu Apple hochgeladen und dort von Mitarbeitern manuell geprüft. Erst wenn diese Prüfung entsprechende Inhalte finde, folge die Alarmierung der Behörden.

Apple hatte sich also einiges überlegt, wie fehlerhafte Meldungen ausgeschlossen werden können. Was man dabei allerdings offenbar vergessen hatte, waren jene übergeordneten Fragen, die von außen schnell auf den iPhone-Hersteller einprasseln sollten. Apple baue hier eine Art Hintertür in sein Betriebssystem ein, warf etwa die Electronic Frontier Foundation (EFF) dem Unternehmen vor. Wenn es einmal so ein System gäbe, würden unweigerlich die Wünsche von Regierungen und Geheimdiensten folgen, nach ganz anderen Inhalten zu suchen. Das Ganze also etwa zu verwenden, um sonstigen illegalen Aktivitäten nachzuspüren oder auch herauszufinden, wer in autoritären Ländern regimekritische Bilder teilt.

Eine verblüffend schwache Reaktion

Apples Antwort darauf war ebenso simpel wie wenig überzeugend: Man werde sich mit allen – auch rechtlichen – Mitteln gegen solche Begehrlichkeiten wehren. Dass man dazu bereit sei, habe man in der Vergangenheit immer wieder bewiesen. Eine Art "vertraut uns" also. Dass dies den Kritikern ebenso wenig reichte wie Apples stete Betonung, dass das System zuerst nur in den USA starten soll, war insofern wenig überraschend. Ändert dies doch an der grundlegenden Problematik wenig. Die Versicherung Apples, dass das System nur dann läuft, wenn die iCloud-Back-up-Funktion aktiviert ist, erwies sich ebenfalls als Schuss nach hinten. Immerhin heißt dies, dass all jene, die wirklich im großen Maß solche Bilder sammeln, die Überprüfung leicht austricksen könnten – während die Fotos der breiten Masse gescannt würden.

Fehlersuche

All das wirft vor allem eine Frage auf: Wie konnte sich Apple dermaßen verschätzen? Zum Teil liegt dies sicherlich an einer gewissen Hybris. Der iPhone-Hersteller positioniert sich seit Jahren als der aufrechte Kämpfer für die Privatsphäre der Nutzer schlechthin. Das damit einhergehende Vorschussvertrauen hat man offenbar massiv überschätzt. Vor allem ist dem Unternehmen aber ein massiver Denkfehler unterlaufen. Apple betonte immer wieder, dass der gewählte Weg erheblich privatsphärenfreundlicher sei als jener, der bei vielen anderen Firmen zum Einsatz kommt. Dabei referenziert man darauf, dass etwa Facebook und Google seit Jahren die auf ihren Servern gespeicherten Nutzerdaten nach entsprechenden Materialien durchsuchen. Das ist zwar richtig, dabei übersieht man aber einen entscheidenden Punkt: Das Smartphone wird von vielen als ihr persönlichster Bereich angesehen. Jeder Eingriff hier wiegt erheblich schwerer als in den diversen Clouds – an die die meisten keine sonderlichen Privacy-Erwartungen haben.

Doch auch sonst sind Apple in dieser Episode einige Fehler unterlaufen. Einer davon ist tief in der Unternehmenskultur verankert: Anstatt sich mit anderen Unternehmen abzustimmen oder gar externe Privatsphärenexperten beizuziehen, entschloss man sich für einen Alleingang. Das erwies sich in diesem Fall als fatal. Dazu kommt, dass die Firmenleitung nicht einmal die eigenen Angestellten von den Plänen überzeugen konnte. Das Ergebnis: Rasch wurden interne Memos nach außen gespielt, die die Akteure in einem wenig positiven Licht erscheinen ließen. Wurden darin doch Kritiker als "kreischende Stimmen der Minderheit" bezeichnet, die bald verstummen würden. Dass diese Aussage genau genommen von einer externen Expertin stammte, änderte an der verheerenden Signalwirkung dieser Worte wenig.

Vertrauensverlust

Was bleibt, ist ein nachhaltiger Schaden für Apples Glaubwürdigkeit in Fragen der Privatsphäre. Innerhalb weniger Wochen hat sich das Unternehmen in den Augen vieler vom obersten Privacy-Verfechter der Tech-Branche zu jener Firma, die die Fotos der Nutzer ausspionieren will, gewandelt. Da nutzt auch die aktuelle Kehrtwende nur noch wenig. Das ist zugegeben nicht ganz fair, immerhin ist Apple in vielerlei Hinsicht weiterhin ein stärker auf Privatsphäre ausgerichtetes Unternehmen als die Konkurrenz – allein schon deshalb, weil man für das eigene Geschäft nicht auf große Datensammlungen angewiesen ist. Trotzdem wird es einige Zeit brauchen, bis man das verspielte Vertrauen wieder herstellen kann – und bei einigen Nutzern wird auch das nichts mehr bringen. (Andreas Proschofsky, 7.9.2021)