Die jüngsten Statistiken über die Verdoppelung der antisemitischen Vorfälle in Österreich, gemeldet von der Israelitischen Kultusgemeinde, haben zu Recht Besorgnisse und zugleich Empörung ausgelöst.

Im ersten Halbjahr wurden mit 562 Fällen mehr als doppelt so viele antisemitische Übergriffe registriert wie im Vergleichszeitraum 2020. Die meisten Beleidigungen im Internet, Schmierereien, Graffitis und Bedrohungen (244) gingen von rechtsextremen Tätern aus, gefolgt von links und muslimisch motivierten Fällen. Dass die Vermutungen über die Rolle von antijüdischen Verschwörungstheorien bei den auf die Corona-Epidemie bezogenen Protesten gegen die Impfung stichhaltig waren, beweisen die 126 diesbezüglich gemeldeten Fälle.

Synagoge in der Seitenstettengasse in Wien.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Diese Zahlen erinnern daran, dass 80 Jahre nach dem Anfang des organisierten Massenmordes an sechs Millionen Juden Bertolt Brechts Warnung weiterhin gilt: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!" Deshalb findet die in der Zeit durch einen Artikel des australischen Historikers Dirk Moses entzündete heftige Diskussion über den Holocaust als im Grunde den kolonialen Gräueltaten ähnliches historisches Verbrechen weit über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung: Die deutsche Erinnerungskultur sei zur rituellen "Staatsideologie" geworden, die "Sprechcodes" verordnet und die Opfer von anderen historischen Verbrechen ignoriert. Auch Historiker wie Michael Rothberg leugnen die Einzigartigkeit der Shoah und sprechen von einer "multidirektionalen Erinnerung".

Antijüdische Ausfälle

Der Schriftsteller Maxim Biller verurteilt jetzt in der Zeit in einem schonungslosen Aufsatz "die Mode, den Holocaust zu verharmlosen und kleinzureden", wie es der große Historiker der Judenvernichtung, Saul Friedländer, schon angeprangert hatte. Die "neuen Relativierer des Holocausts" (Biller) vergessen den schleichenden gefährlichen Bodensatz des alten und jenes neuen Antisemitismus, der die Palästinenser zu den "Juden von heute" erklärt. Die manipulierte Vermischung der legitimen Israelkritik mit den abstrusen Theorien des "jüdischen Komplotts", garniert mit dem bewährten alten Amerikahass, wird heute wie gestern von den "ehrbaren Antisemiten" (Jean Améry) angeboten.

Angesichts des so deutlichen europaweiten Anstiegs der antijüdischen Ausfälle habe ich in diesen Tagen gebannt, auch als Überlebender des Todesmarsches, das Meisterwerk der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse, Dunkelblum, am (nicht ausgesprochenen) Beispiel des vertuschten Massakers kurz vor Kriegsende 1945 in der Kleinstadt Rechnitz im Burgenland, über das Verschweigen, das Vertuschen und das Verdrängen durch die Täter und die Zeitzeugen gelesen.

Es mögen über sieben Jahrzehnte vergangen sein, aber ich denke daran, was der deutsche Literat Hans Mayer (1907–2001) in seiner Autobiografie schrieb: "Es gibt eine wunderbare Heilkraft der Natur, doch es gibt keine Heilkräfte der Geschichte. Es heißt zwar, darüber muss Gras wachsen, allein unter dem Gras liegen nach wie vor die Toten." Nicht nur in Rechnitz, sondern auch quer über Osteuropa von Jedwabne bis Babyn Jar, von Kielce bis Miskolc, umgebracht von SS-Verbänden und örtlichen Helfershelfern. (Paul Lendvai, 6.9.2021)