Im Jahre 1867 schlugen die Wiener Ärzte Alarm. 40 bis 50 Prozent aller Spitalsbetten waren mit Tuberkulose-Patienten belegt. Sie lagen ohne Schutzvorkehrungen inmitten aller anderen Patienten. Die Tuberkulose oder "weiße Pest" zählte lange Zeit zu den schrecklichsten Seuchen. Schätzungen zufolge war im 19. Jahrhundert praktisch jeder Wiener daran erkrankt. Es gab noch keine wirksamen Medikamente, keine Impfung, und die Ursache löste Streitigkeiten bei den Ärzten aus. Manche hielten die Tuberkulose für eine bösartige, aber nicht infektiöse Krankheit, Robert Kochs Erkenntnisse über das auslösende Bakterium, wofür er sogar den Nobelpreis erhielt, wurden von seinem Lehrer Rudolf Virchow als unbewiesener Bazillenzirkus süffisant abgetan. Die unterschiedlichen Meinungen führten in der Bevölkerung teils zu Panik, weil klare Informationen fehlten, teils zu völliger Missachtung der Krankheit.

Erst 1898 wurde das erste Sanatorium für Tuberkulosepatienten in Alland in Niederösterreich eröffnet. Es folgten Verordnungen mit Anzeigepflicht, Desinfektionsmaßnahmen, Hygienevorschriften für Wohnungen, Massenquartiere und Schankbetriebe sowie ein Beschäftigungsverbot für Tuberkulosekranke im Lebensmittelhandel und in der Gastronomie.

Heilanstalt Alland, Niederösterreich.
Foto: Marktgemeinde Alland

Nährböden für Krankheiten

Ärzte forderten das Aufstellen von Spuckschalen und die Isolierung von Erkrankten. Besonders wichtig war das Bewusstsein für Hygiene. 1887 wurde das erste Tröpferlbad in der Mondscheingasse im 7. Bezirk errichtet, weitere 18 folgten bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs und wurden jährlich von 3,5 Millionen Menschen genutzt. Für die Arbeiterklasse war es oft die einzige Möglichkeit zur gründlichen Körpereinigung, denn Hygieneprodukte wie Seife, Waschmittel oder Toilettenpapier galten bis ins späte 19. Jahrhundert als Luxusgüter. Erst die industrielle Massenproduktion erlaubte eine kostengünstigere Herstellung.

Innenhof des Tröpferlbads Mondscheingasse 9.
Foto: Bezirksmuseum Neubau, Wien

Aber auch viele Wiener Wohnungen waren ein Nährboden für den Tuberkulose-Erreger. 1919 waren nur acht Prozent der Wiener Wohnungen mit einem eigenen WC ausgestattet, nur fünf Prozent verfügten über eine eigene Wasserleitung. Zahlreiche Menschen lebten in Kellerwohnungen oder in Wohnungen ohne direkte Belichtung, nur mit Fenstern, die auf Gänge oder in einen schmalen Lichtschacht oder Lichthof hinausgingen. Über 70 Prozent der Wohnungen wiesen nicht mehr als maximal 28 Quadratmeter auf. Noch 1937 hatten 75 Prozent der Tuberkulose-Erkrankten keinen eigenen Schlafraum und elf Prozent nicht einmal ein eigenes Bett.

Und diese desolaten Wohnungen waren noch dazu teuer. Arbeiter mussten bis zu ein Viertel ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Oft konnten sie diese nur durch die Aufnahme von "Bettgehern" bezahlen, also Personen, die die Wohnung eines anderen als Schlafstätte nutzten. Kein Wunder, dass die Tuberkulose als "Wohnungskrankheit" galt. Abhilfe schuf der soziale Wohnbau in der Zwischenkriegszeit. Die neuen Wohnungen waren nun mit Innentoiletten und einer Energieversorgung ausgestattet. In den Gemeindebauanlagen befanden sich Grünflächen, es gab Waschküchen, Kindergärten und Gemeinschaftsbäder. Die Stadt Wien setzte massiv auf Prävention, denn was nutzte es, wenn die Patienten in den Heilanstalten kostspielig behandelt werden und gesunden, dann aber wieder in ihre kleinen Wohnungen zurückkehren und dort zusammengepfercht auf engstem Raum weiterleben.

Kinderfreibad Döbling, Hugo-Wolf-Park.
Foto: Bezirksmuseum Döbling

Und man setzte auf Tests. In Volksschulen nahm man mit Einverständniserklärung der Eltern Dermotubin-Proben vor. Im Schuljahr 1925/26 wurden beispielsweise von den 17.300 Kindern der ersten Volksschulklassen 10.777 getestet. Bei den Knaben waren durchschnittlich 38,6 Prozent Tuberkulose-positiv, bei den Mädchen 38,1 Prozent. Solche Reihentests sollten vor allem auch die Aufnahme von infektiösen Kindern in Heime oder Horteinrichtungen verhindern.

Moulage einer Reaktion auf die von Clemens von Pirquet entwickelte Tuberkulin-Probe.
Foto: Pathologisch-Anatomisches Bundesmuseum, Wien

Innovative Maßnahmen

Weiters kam es zur Modernisierung der Müllabfuhr, Fürsorgerinnen kontrollierten die Lebensbedingungen von Säuglingen und Kleinkindern, mit Sport und gesunder Ernährung motivierte man die Menschen, sich fit zu halten. Diese Maßnahmen des Roten Wien trugen dazu bei, dass die Hauptstadt in der Ersten Republik das modernste Fürsorgesystem in Österreich hatte und die Tuberkulose bekämpfen konnte.

So bedrohlich Seuchen auch immer waren und sind, so boten sie oft Anregungen für innovative Maßnahmen, von denen wir bis heute profitieren. Erste Stadtgesundheitskonzepte im 16. Jahrhundert, Quarantänebestimmungen für Reisende an der Grenze zum Osmanischen Reich, Gratisimpfaktionen für die Bevölkerung durch Maria Theresia, der Kampf um die Händehygiene, die erste Hochquellenwasserleitung oder eben der soziale Wohnbau sind eng mit Seuchenbekämpfung verbunden. (Daniela Angetter-Pfeiffer, 9.9.2021)