Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sprach am Montagabend im ORF-"Sommergespräch" vom "überproportional großen Beitrag", den Österreich bei humanitärer Hilfe vor Ort leiste. Tatsächlich sind die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und Katastrophenhilfe gestiegen, internationale Richtwerte werden aber nach wie vor verfehlt.

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Die "Hilfe vor Ort" war schon beim Flüchtlingscamp Moria eine beliebte Antwort der türkis-grünen Regierung auf die dortigen katastrophalen Zustände für geflüchtete Personen und die Frage nach Konsequenzen – und seit die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, wird die Auslandshilfe wieder viel bemüht: Österreich will bekanntlich Afghanistans Nachbarländer stärken, damit sich keine Menschen auf die Flucht nach Europa und somit Österreich machen.

Was Kurz gesagt hat

Was gibt Österreich dafür aus? Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte dazu am Montagabend im "Sommergespräch" des ORF, "mehr ist immer besser", aber Österreich gebe immerhin über eine Milliarde Euro "für humanitäre Hilfe vor Ort und Entwicklungszusammenarbeit" aus. Zweitens: Seit er politisch verantwortlich sei, habe sich die humanitäre Hilfe vor Ort "mehr als verzehnfacht". Und drittens nehme man heuer "so viel Geld wie noch nie zuvor" für ein Land – Afghanistan – und dessen Nachbarschaft in die Hand. Man könne nicht das Leid aller Menschen auf der Welt lindern, "aber wir sollten, was wir auch tun, einen überproportional großen Beitrag leisten, um vor Ort zu helfen".

Wie die Zahlen aussehen

Dass Österreich über eine Milliarde für Entwicklungszusammenarbeit (EZA) und humanitäre Hilfe ausgibt, ist korrekt. Konkrete Zahlen für das Jahr 2020 oder 2021 sind noch nicht verfügbar, aber die Prognose ging von 1,1 bzw. 1,8 Milliarden Euro aus. 2019 floss etwas mehr als eine Milliarde. Aufgeteilt ist das Budget grob in die multilaterale und in die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Die multilateralen Beträge fließen großteils an internationale Organisationen wie etwa die Uno. Das waren 2019 rund 700 Millionen Euro, der Rest – etwa 400 Millionen Euro – ging in die bilaterale EZA.

In diesem Budget enthalten ist auch der sogenannte Auslandskatastrophenfonds. Die Ausschüttung von Mitteln aus diesem Fonds bedarf einer Zustimmung des Ministerrats, der Fonds dient in erster Linie der raschen Hilfe bei Krisen und Katastrophen. Hier kam es in den letzten Jahren tatsächlich zu einer markanten Steigerung: 2013, als Kurz Außenminister war, war der AKF noch mit fünf Millionen budgetiert. 2020 wurden die Mittel für den Fonds von 25 Millionen auf 50 Millionen verdoppelt, 2021 liegen die Mittel bei 52,5 Millionen Euro. Die von Kurz angesprochene Verzehnfachung, seit er in politischer Verantwortung ist, stimmt also. Bis 2024 sollen die Mittel für den AKF laut Regierung auf 60 Millionen steigen.

Die zuletzt hohe Steigerung war dabei ursprünglich ungeplant und resultierte aus einem Konflikt zwischen den beiden Regierungsparteien wegen der Flüchtlingscamps auf Moria: Weil die ÖVP gegen die Aufnahme von Geflüchteten war, rangen die Grünen dem Koalitionspartner die Aufstockung ab. Auch Grünen-Chef Werner Kogler hatte in seinem "Sommergespräch" auf diese Erhöhung hingewiesen und sie als Errungenschaft der grünen Regierungsarbeit beschrieben.

Was die Zahlen bedeuten

Fehlt freilich eine Bewertung dieser nackten Zahlen – Kurz sprach ja vom "überproportional großen Beitrag", den Österreich leiste. Dem ist allerdings nicht so – denn als Messlatte gilt hier ein Anteil von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens, der für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe ausgegeben werden sollte. Österreich liegt mit den Zahlen von 2020 – 1,113 Milliarden Euro laut Vorausmeldung – bei einem Wert von 0,29 Prozent. 2019 waren es 0,28 Prozent. Österreich ist damit nicht nur weit von den 0,7 Prozent entfernt, die man laut Regierungsprogramm noch immer erreichen will, sondern liegt auch unter dem OECD-Durchschnitt. Deutschland, Luxemburg, Norwegen und Schweden geben mehr als die 0,7 Prozent aus.

Auch die Verknüpfung der Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit mit der Hilfe vor Ort, die Kurz in seinem Statement ja macht, sei schwierig, meint Michael Obrovsky, stellvertretender Leiter der österreichischen Forschungsstiftung für internationale Entwicklung. Denn ein Großteil der EZA-Mittel – 700 Millionen Euro – fließe in die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Da könne man nur schwer sagen, wie viel Geld tatsächlich in Projekte vor Ort fließt, "weil es Beiträge an internationale Organisationen sind, die selbst bestimmen, wie das Geld eingesetzt wird".

Und auch von den rund 400 Millionen, die für die bilaterale EZA gezählt werden, lande ein Großteil nicht vor Ort, sagt der Experte. Obrovsky zufolge ist es ein Irrtum, dass eine Milliarde in Entwicklungsländer "fließt". Einiges bleibe in Österreich. Denn in diesen Topf fallen auch Ausgaben zur Versorgung von Asylwerbern im Inland (2020: 20 Millionen Euro) oder etwa Studienplatzkosten (2020: 100 Millionen Euro). Dabei macht Österreich die Kosten für Studierende aus armen Ländern an heimischen Unis geltend. Und auch die Entschuldung machte bereits einen großen Anteil aus. Etwa im Jahr 2005, da waren die Ausgaben für Entschuldungen so hoch, dass der Anteil für EZA in Österreich kurzfristig auf 0,52 Prozent stieg – ein Rekordwert, der nie wieder erreicht wurde. Über die Entschuldungszahlungen entscheidet nicht Österreich, sondern der Pariser Club.

Die Entschuldung ist es auch, die für den prognostizierten Anstieg auf 0,45 Prozent für 2021 verantwortlich ist. "Ende 2021 bzw. Anfang 2022 wird die Entschuldung des Sudan voraussichtlich beginnen, die sich mit ca. 550 Mio Euro pro Jahr über drei Jahre hinweg zu Buche schlagen wird", heißt es dazu aus dem Außenministerium.

Was tatsächlich vor Ort ankommt

Was kommt also tatsächlich vor Ort an? Hier kann man laut Obrovsky grob gesagt die Mittel für den AKF dazuzählen und das Budget, das die Austrian Development Agency (ADA) erhält, jene GmbH, die im Auftrag des Außenministeriums Entwicklungshilfeprojekte ausschreibt und vergibt. Das waren zuletzt knapp über 100 Millionen Euro. Insgesamt sei man dann bei etwa 150 bis 160 Millionen Euro für Hilfe und Projekte in Entwicklungsländern bzw. von Katastrophen betroffenen Staaten, rechnet Obrovsky vor – knapp mehr als zehn Prozent der Gesamtausgaben für EZA. Mit den 50 Millionen für den AKF stehe Österreich mittlerweile zwar viel besser da, man sei aber nach wie vor "weit entfernt von großen europäischen Geberländern". Und das Ziel, dass sich durch Hilfe vor Ort Menschen nicht auf die Flucht machen, könne man mit Beträgen in dieser Höhe – und ohne europäische Gesamtlösung – wohl kaum erreichen.

Obrovsky erhofft sich für die nächsten Jahre einen Stufenplan, wie Österreich die 0,7 Prozent erreichen will. Wie es gehen kann, habe in den letzten Jahren Finland gezeigt: Dort steigerte man sich von 0,36 Prozent im Jahr 2018 auf 0,47 Prozent 2020. Außerdem müsse der Anteil des ADA-Budgets an den Gesamtausgaben steigen, fordert der Experte. So fließe dann tatsächlich mehr Geld in Entwicklungszusammenarbeit – die im Gegensatz zur humanitären Hilfe eine langfristige Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen vor Ort zum Ziel habe. (Lara Hagen, 7.9.2021)