Steine erinnern im August bei einer Demonstration in Buenos Aires an Opfer und die geschätzte Zahl der Menschen, die in Argentinien durch Covid-19 verstarben. Laut den Berechnungen des "Economist" ist in Argentinien die wahre Zahl der Pandemieopfer um 50 Prozent höher als 109.000.

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Wie viele Menschen sind bisher durch Covid-19 weltweit gestorben? Die Frage ist alles andere als einfach zu beantworten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Definition "durch Covid-19" nicht ganz eindeutig ist. Denn einerseits starben manche Menschen, deren Tod auf Covid-19 zurückgeführt wird, an anderen Krankheiten, die ihr Leben in einem ähnlichen Zeitrahmen beendet hätten. Andererseits sind viele Menschen, die aufgrund einer Infektion mit Sars-CoV-2 starben, nie auf die Krankheit getestet worden.

Dann gibt es Menschen, die während der Pandemie starben, weil die mit Covid-19-Patienten überfüllten Krankenhäuser sie nicht behandeln konnten. Wenn solche Fälle zählen, müssen sie andererseits aber auch mit Todesfällen verrechnet werden, die nicht eingetreten sind, aber in normalen Zeiten eingetreten wären – wie zum Beispiel Todesfälle durch Grippe oder Luftverschmutzung.

Errechneter Sterbefallüberschuss

Das Datenteam der renommierten britischen Wirtschaftszeitschrift "The Economist" hat versucht, all diese Faktoren zu berücksichtigen, um die globale Übersterblichkeit durch Covid-19 zu ermitteln. Diese Standardmethode zur Erfassung von Veränderungen in der Gesamtsterblichkeit nennt sich "Sterbefallüberschuss".

Dabei wird schlicht und einfach die Differenz errechnet zwischen der Anzahl der Menschen, die in einer bestimmten Region in einem bestimmten Zeitraum gestorben sind (unabhängig von der Ursache), und der Anzahl der Todesfälle, die zu erwarten gewesen wären, wenn ein bestimmter Umstand (wie eine Naturkatastrophe oder ein Krankheitsausbruch wie eben Covid-19) nicht eingetreten wäre.

Nach dieser Methode kam das Team um Sondre Ulvund Solstad auf mehr als die dreifache Opferbilanz verglichen mit den offiziellen Zahlen. Während die Johns Hopkins University, die Weltgesundheitsorganisation und andere Institutionen bei etwa 4,5 Millionen Todesfällen durch die Pandemie halten, schätzt der "Economist" in seiner aktuellen Ausgabe die tatsächliche Zahl aktuell auf 15,2 Millionen Menschen.

Große Schwankungsbreite

Die Bilanz ist eine Aktualisierung von Berechnungen aus dem Mai, die ebenfalls zum Schluss kamen, dass die offiziellen Zahlen nur ein Drittel der wahren Opferbilanz darstellen. Die Schwankungsbreite ist freilich relativ groß: Der wahre Wert liegt mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 9,3 Millionen und 18,1 Millionen Todesopfern durch Covid-19.

Die "Economist"-Schätzung des "Sterbefallüberschusses" durch Covid-19 im Vergleich zu den offiziellen Zahlen (blaue Linie).
Grafik: The Economist

Der Grund dafür, warum der "Economist" nur eine grobe Schätzung mit einer großen Bandbreite liefern kann, liegt vor allem darin, dass von den 156 Ländern der Welt mit mehr als einer Million Einwohnern nur von 84 Ländern Daten zur Gesamt- und Übersterblichkeit vorliegen.

Um diese Lücken zu schließen, haben die Datenjournalisten der Zeitschrift ein Modell entwickelt, das auf maschinellem Lernen basiert und das die überzähligen Todesfälle für jedes Land an jedem Tag seit Beginn der Pandemie schätzt. Es stützt sich sowohl auf offizielle Daten zur Sterblichkeitsrate als auch auf mehr als 100 andere statistische Indikatoren. Die endgültigen Zahlen basieren auf den offiziellen Angaben der Regierungen zu den Sterbefällen, sofern diese verfügbar sind, und auf den Schätzungen des Modells für alle anderen Fälle.

Der Vorteil des Modells vom "Economist": Es ist methodisch sehr transparent, was hier nachlesbar ist. Zudem werden hier alle Daten offengelegt. Und auch alle Anpassungen und Verbesserungen der Berechnungsmethoden sind auf der (allerdings kostenpflichtigen) Seite mit den täglich aktualisierten Zahlen für alle Länder nachvollziehbar.

Plus 800 Prozent in Afrika

Nicht ganz überraschend ist, wo der "Economist" die größten Abweichungen vermutet: Geht es nach Kontinenten, so halten die Datenjournalisten die tatsächlichen Todeszahlen in Asien und in Afrika für um 700 beziehungsweise 800 Prozent zu niedrig. In Ozeanien hingegen dürfte die Opferbilanz durch Covid-19 zu hoch sein und letztlich auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen: Es gab wenig Covid-19-Tode; durch den Wegfall anderer tödlicher Faktoren gab es in dieser Weltregion so gut wie keine Übersterblichkeit. In der EU dürften die "wahren" Zahlen laut den Hochrechnungen gerade einmal um sieben Prozent höher liegen, in Österreich um zwei Prozent.

Anders als noch bei den Schätzungen im Mai führen nun südasiatische Länder die Länderstatistik mit den größten Abweichungen an. Laut den offiziellen Zahlen sind dort rund 450.000 Menschen durch Covid-19 gestorben; der "Economist" geht hingegen von 1,1 bis 7,1 Millionen aus. Der wahrscheinlichste Wert liegt um 900 Prozent höher. In Pakistan ist die Diskrepanz noch höher und liegt bei 2.500 Prozent, in Bangladesch bei 1.900 Prozent. Bei China gibt es die größten Fragezeichen: Statt rund 4.600 Toten könnte die Zahl der zu erwartenden Toten durch die Pandemie um 140.000 verringert worden sein. Sie könnte aber auch bei 1,5 Millionen zusätzlichen Toten liegen.

Übersterblichkeit in Relation zur Bevölkerungsgröße laut den Berechnungen des "Economist".
Grafik: "The Economist"

Tote im Vergleich zur Bevölkerungsanzahl

Aufschlussreich sind auch die Schätzungen der Zahl der Toten in Relation zur Bevölkerungsgröße. Die offizielle Statistik führt hier Peru an, wo nach offiziellen Zahlen rund 0,6 Prozent der Bevölkerung durch Covid-19 gestorben sind. (Zum Vergleich: John Ioannidis, der wissenschaftliche Held der Corona-Maßnahmen-Gegner, ging von einem Median bei der Infektionssterblichkeit von 0,27 Prozent aus, was sich für dieses Land nicht mehr ganz ausgeht.) Der "Economist" ermittelte für einige Länder wie etwa den Irak einen Anteil von rund um ein Prozent Covid-Toten in Relation zur Gesamtbevölkerung. (Klaus Taschwer, 7.9.2021)