Anfang Mai, als mehr als 2000 Flüchtlinge und Migranten binnen 24 Stunden Lampedusa erreichten, eroberten die Fluchtbewegungen im Mittelmeer die Schlagzeilen. Davor und danach gehörte das Rampenlicht vorwiegend der Corona-Pandemie und seit einigen Wochen den Entwicklungen in Afghanistan. Letztes Wochenende aber berichtete die Welt am Sonntag, dass die Ankünfte über das Mittelmeer wieder steigen.

Besonders die Route von der Türkei nach Griechenland wird derzeit besonders beäugt, befürchten doch viele EU-Länder aus dieser Richtung eine größere Fluchtbewegung von Afghanen. Bislang zumindest ist die Zahl der Ankünfte über das Mittelmeer – heuer mit Stand 5. September 62.936 – zwar höher als im letzten Jahr, aber noch weit entfernt von jener rund um das Jahr 2015.

Damit einher gehen auch die Seenotretterinnen und -retter, die weiterhin Flüchtlinge und Migranten aus dem Mittelmeer retten. Dass jene ein Politikum sind, zeigt sich am Beispiel Sascha Girke. Der 42-jährige Deutsche ist seit 2015 als Seenotretter aktiv, doch seit April dieses Jahres ist er gezwungen, an Land zu bleiben. "Wir sind Ende März gerade mit 360 Geretteten in den Hafen von Augusta eingelaufen, da kam die Nachricht von der Anklage", sagt Girke dem STANDARD.

Sascha Girke (Mitte) im Rettungseinsatz im Mittelmeer.
Selene Magnolia

Vorwurf der Schlepperei

Ihm und 23 weiteren Personen verschiedener NGOs wird von der Staatsanwaltschaft der sizilianischen Stadt Trapani vorgeworfen, 2016 und 2017 Flüchtlinge und Migranten nicht gerettet, sondern in Zusammenarbeit mit libyschen Schleppern nach Europa gebracht zu haben. Aus diesem Grund wurde die Iuventa im August 2017 auf Lampedusa festgesetzt – Girke war Einsatzleiter dieses Rettungsschiffs.

Während die Ermittler ihre Vorwürfe mit E-Mails- und Whatsapp-Nachrichten der Crew untermauern wollen, betont diese, immer in Einklang mit internationalem Recht agiert zu haben. Ende 2021 oder Anfang 2022 soll der Prozess mit einer ersten vorbereitenden Anhörung starten.

Deshalb ist Girke nicht im Einsatz, denn es gilt, sich darauf vorzubereiten: "Es geht nicht nur um unsere persönliche Freiheit und um die nächsten Jahre unseres Lebens, sondern auch darum, dass es politisch ein wichtiger Prozess ist. Verlieren wir den, wäre das eine schwerwiegende Entscheidung für die Seenotrettung an sich."

Girke meint damit eine "Kriminalisierungsstrategie" der Behörden, um Seenotretter aus dem Mittelmeer zu vertreiben. Denn viele europäische Politiker sehen die Rettungsschiffe als Pull-Faktor, als Anreiz für Flüchtlinge und Migranten, sich auf die gefährliche Reise nach Europa zu begeben.

Rackete-Prozess eingestellt

Girke und seine 23 Mitangeklagten sind denn auch nicht die ersten Seenotretter, gegen die juristisch vorgegangen wird. Das bekannteste Beispiel ist Carola Rackete, die als Kapitänin der Sea Watch 3 ohne Genehmigung, dafür mit 40 Geretteten an Bord, in den Hafen von Lampedusa einlief. Doch am 19. Mai wurde der Prozess gegen sie eingestellt: Sie habe aus Pflicht gehandelt, die Geretteten zu einem sicheren Hafen zu führen, hieß es.

Seit April ist Girke nicht mehr im Mittelmeer.
Selene Magnolia

So weit ist Girke noch lange nicht. Seine Anwälte gehen davon aus, dass der Prozess in erster Instanz drei bis fünf Jahre dauern wird und er womöglich einmal im Monat vor Ort sein muss. Mitunter drohen den Angeklagten bis zu 20 Jahre Haft.

Entkriminalisierung gefordert

Und dann kommen natürlich zahlreiche Kosten hinzu – Reisekosten, Medienarbeit, aber vor allem Anwaltskosten. "Wir kalkulieren mit 300.000 bis 500.000 Euro. Den Großteil haben wir aber schon durch Spenden zusammen", sagt der Berliner Girke. Auch Amnesty International haben sie an ihrer Seite. Zehn Ex-Crewmitglieder der Iuventa, darunter Girke, erhielten den Menschenrechtspreis der Organisation, die eine Entkriminalisierung der Seenotrettung fordert und damit auch, die Klagen fallen zu lassen.

Dazu wird es nicht kommen, das ist klar. Ob es Girke nun nicht bereue, sich auf die Seenotrettung eingelassen zu haben? "Nein. Für mich war immer klar, zu helfen. Nicht handeln ist keine Option." (Kim Son Hoang, 8.9.2021)