Vom Licht am Ende des Tunnels ist Sebastian Kurz offenbar schon geblendet, wenn er meint, für die Geimpften sei die Pandemie bereits zu Ende. Auch in seinem Lebensalltag dürfte nicht alles wieder auf normal gestellt sein. Für die allermeisten Menschen in diesem Land, ein paar Einsiedler ausgenommen, ist das Leben jedenfalls anders und schwieriger geworden, egal ob geimpft oder nicht. Wir tragen immer noch Masken, viele arbeiten im Homeoffice, viele leiden unter dem Jobverlust, wir müssen Atteste vorweisen, wenn wir essen gehen, ins Kino oder auf den Fußballplatz. Auch Geimpfte können erkranken, und für Kinder unter zwölf, die von der Impfung ausgeschlossen sind, ist das Leben gefährlicher als zuvor, was vor allem ihre Eltern stresst. Schauen Sie einmal in einen Kindergarten oder in die Volksschule, Herr Bundeskanzler, reden Sie mit den Zwergerln, die mit Schultüte und Maske vor der Schule stehen, reden Sie mit deren Eltern.

Ohne Impfung ist das Risiko, sich zu infizieren, ungleich höher als mit Impfung.
Foto: APA/EXPA/JFK

Die Pandemie ist bei weitem nicht vorbei, auch nicht für die Geimpften. Wir werden uns an vielerlei Einschränkungen gewöhnen müssen, wahrscheinlich auf Jahre hinaus. Die Politik sollte so ehrlich sein und das auch aussprechen. Das Licht am Ende des Tunnels ist eine höchst subjektive Wahrnehmung des Kanzlers – oder auch nur das Licht von was auch immer uns da entgegenkommt.

Womit Kurz freilich recht hat: Die Impfungen tragen maßgeblich dazu bei, uns das Leben wieder schöner zu machen. Wir können rausgehen und Leute treffen. Wir werden lernen, mit dem Virus zu leben. Das wird den Geimpften leichter gelingen als den Ungeimpften, tatsächlich auch im wortwörtlichen Sinn. Es ist eine Tatsache: Ohne Impfung ist das Risiko, sich zu infizieren, einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden und womöglich daran zu sterben, ungleich höher als mit Impfung. Da sollte es eigentlich keine Diskussionen geben – gibt es aber. Und langsam stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, sich auf diese Diskussionen noch einzulassen.

Geeignete Maßnahmen

Die Politik findet nun eine Antwort darauf. Bundeskanzler Kurz vermied es zwar, den Ungeimpften allzu heftig ins Gewissen zu reden, wurde im ORF-Sommergespräch aber doch deutlich. Man werde geeignete Maßnahmen zum Schutz der Ungeimpften setzen.

Das ist ein wenig zynisch, weil es nichts anderes bedeutet, als diejenigen Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, von Teilen des öffentlichen Lebens auszuschließen. Ihnen wird, je nach Entwicklung in den Krankenhäusern, sukzessive die Teilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen untersagt: keine Nachtgastronomie, keine Großveranstaltungen wie Konzerte oder Sportereignisse. Das wird wohl ausgedehnt auf Kino, Theater und letztendlich die Gastronomie ganz allgemein, wenn die Zahlen dies verlangen. Es wird keinen Lockdown mehr geben, aber die Ungeimpften werden zu Hause bleiben. Müssen. Ein Lockdown nur für einen Teil. Die Gesellschaft wäre damit gespalten.

Das kann man als Freiheitsbeschränkung anprangern. Aber es ist sinnvoll, zwischen jenen, die sich impfen lassen, und jenen, die das verweigern, zu differenzieren. Dazu reicht ein Blick in die Krankenhäuser, wo sich die Intensivstationen rasch füllen. Es sind, mit wenigen Ausnahmen, die Ungeimpften, die hier liegen und sterben. Diese müssen geschützt werden – auch vor sich selbst. (Michael Völker, 7.9.2021)