Von Wienerliedern, illegalem Glücksspiel und den Schlachten der "Strolche": Der Sänger Kurt Girk (links) ist einer der Protagonisten von Tizza Covis und Rainer Frimmels Film "Aufzeichnungen aus der Unterwelt".

Foto: Stadtkino

Das schummrige, in der Zeit versunkene Innere des Café Weidinger erscheint als probates Setting für ein Gespräch über eine Expedition in ein fast vergessenes Wien: Tizza Covi und Rainer Frimmel haben in Aufzeichnungen aus der Unterwelt das Strizzi-Milieu im Ottakring der 1960er-Jahre erkundet. Ein Wienerlied-Sänger und ein ehedem auf seine Fäuste vertrauender Lokalmatador erzählen in dem herausragenden Dokumentarfilm vom Meidlinger Bandenwesen, in dem zwischen illegalem Kartenspiel und Straßengewalt eine ganze Epoche durchschimmert.

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STANDARD: Der Film dreht sich um kriminelle Subkulturen im Wien der 60er-Jahre, aber auch um das Wienerlied. Wo liegt die Verbindung?

Covi: Der Kurt Girk hat das einmal auf den Punkt gebracht. Die Stoß-Spieler haben das Wienerlied groß gemacht. Wer gewonnen hat, hat sich ein Lied gewünscht und dann ordentlich Trinkgeld gegeben.

Frimmel: Das Geld ist äußerst locker gesessen, und es ist auch um wirklich viel Geld gegangen. Die Stoß-Spiele fanden oft in Lokalen statt, in denen auch die Musiker aufspielten.

STANDARD: Sie haben die beiden Ebenen getrennt voneinander recherchiert. Womit haben Sie begonnen?

Frimmel: Wir haben Gesellschaftsabende in Kaffeehäusern begleitet. Entertainer mit singenden Sägen oder das Mandolinenorchester.

Covi: Oder die Kunstpfeiferin Lips von Lipstrill. Im Café Donauwelle waren wir oft, da hat die Frau Maria Rhetorikkurse gehalten.

Frimmel: An einem dieser Abende haben wir den Kurt Girk dann singen gehört. Er erschien uns gleich als besondere Persönlichkeit.

Covi: Am Anfang steht das Interesse am Menschen, an einer Tradition. Wir haben dort Leute kennengelernt, mit denen man sonst nicht in Berührung kommt: Fiaker, Ex-Häftlinge ... Ein Panoptikum. Als Künstler ist man in dieser Schicht ja nicht so angesehen.

STANDARD: Dabei entsteht ein fast schon versunkenes Bild von Wien. Was wollten Sie genau bewahren?

Frimmel: Geschichten. Man redet natürlich viel darüber, wie es in Wien einmal war. Solche Subkulturen und ihre Sprachen verschwinden unweigerlich. Diese Generation, die noch im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist, wird bald nicht mehr da sein. Mit ihnen verschwinden eine Sprache, Verhaltensweisen, Umgangsformen.

STANDARD: "Die Unterwelt gab’s eigentlich nie", sagt Alois Schmutzer einmal. Das seien alles nur Raufbolde gewesen, die vom Boulevard skandalisiert wurden. Sehen Sie das auch so?

Frimmel: Der Begriff Unterwelt ist von der Perspektive abhängig. Für den einen mag etwas Unterwelt sein, was für den anderen völlig normal ist. Natürlich haben die Medien diesen Begriff strapaziert. Es ist auch etwas anderes, wenn man von der Unterwelt in Chicago spricht. Wenn man das Stoß-Spiel als organisiert sieht, dann ist das eben auch Unterwelt. Im Kasino werden Leute aber auch ausgenommen. Oder bei Sportwetten, das wird alles geduldet.

STANDARD: Aber Kurt und Alois teilen doch ein Ethos, sie hatten keine Feuerwaffen. Bei Alois wird betont, er sei bärenstark gewesen.

Frimmel: Dem würde ich nicht ganz zustimmen. Kurt war vor allem Musiker und dann beim Stoß-Spiel dabei. Beim Alois waren das andere Kreise. Er hat sich dem Staat nicht zugehörig gefühlt.

Covi: Er hatte ein Riesenproblem mit der Presse. Die Schmutzer-Buben waren fesche Kerle, die sich viel geprügelt haben. Das ist in der Zeitung gut angekommen. Wenn sie auf dem Titel waren, hat sich das verkauft.

STANDARD: Und man wurde als "Local Hero" respektiert, oder?

Covi: Das hatte zwei Seiten. Du wirst respektiert, zugleich kleben die negativen Schlagzeilen an dir. Da wurde geschrieben, er sei Zuhälter. Das stimmte nicht im Entferntesten.

Frimmel: Sie haben eine Allianz gegen die Polizei gebildet. Die Bevölkerung hat auf ihre "Local Heroes" gesetzt. Dass die Polizeigewalt viel unkontrollierter war, ist auch Thema des Films. Die Schmutzer-Buben wurden als Kämpfer gegen das Staatsmonopol verehrt.

Covi: Sogar Polizisten sagten uns, sie würden sich heute Kriminelle wünschen wie den Schmutzer damals.

STANDARD: Interessant ist, dass sich beide für Minderheiten eingesetzt haben. Kam das daher, dass sie mit Staatsgewalt so vertraut waren?

Frimmel: So jemand wie Kurt verkörpert für uns das ganze Jahrhundert. Seine Erzählungen gehen bis in den Ersten Weltkrieg zurück, als seine Schwestern verhungert sind. Die latente Gewalt, mit der diese Kinder aufgewachsen sind, war für uns keine Erklärung, warum sie in dieses Milieu gerutscht sind. Aber man kann es besser verstehen.

STANDARD: Es überrascht, wie wenig moralisiert wird. Es sind Geschichten aus wilden Zeiten.

Frimmel: Weil man über die schlimmsten Ereignisse mit einer Distanz von Jahren anders redet. Aber die Gefängniszeit kann Alois bis heute nicht in Worte fassen.

Covi: Ansonsten erzählen sie natürlich mit Leichtigkeit. Der Kurt hat das Talent, dass es selbst eine lustige Geschichte wird, wenn er erzählt, wie man auf ihn bei der Flucht geschossen hat. Er weiß, wie man die Vergangenheit mit würzigen Anekdoten aufpeppt. Das Gleiche gilt für den Alois, der lachend berichtet, wie man mit Kalaschnikows auf ihn gezielt hat. Aber an der Stelle, an der er seinen Bruder tot auffindet, hört es sich auf mit dem Spaß. Aus dieser Ambivalenz entsteht die Nähe.

STANDARD: Obwohl Sie nach viel Vorbereitung gedreht haben, war der Rohschnitt sehr viel länger. Wie hat sich daraus die jetzige Form ergeben?

Covi: Wir hatten zu viele Protagonisten. Ursprünglich dachten wir, wir könnten den Film aus 15 Perspektiven bauen. Doch nur die besten Geschichten zusammenzustellen, das hat nicht funktioniert.

Frimmel: Ich empfinde eigentlich die Recherche und das Drehen als das Spannendste. Am liebsten wäre mir ein Film ohne Verwertungszwang.

Covi: Du machst deine Filme doch so, wie du willst.

Frimmel: Ja, aber von der Persönlichkeit her bin ich mehr ein Sammler.

Covi: Du schneidest auch nicht, Schatzi! (Dominik Kamalzadeh, 8.9.2021)