Paris – Jahrelang haben sie geschwiegen. Nach den Schauspielerinnen scheint nun aber die Reihe an die Models gekommen, teils weit zurückliegende Missbrauchsfälle öffentlich zu machen und juristisch dagegen vorzugehen. Seit vergangener Woche sagen frühere Models in einem Ermittlungsverfahren gegen Gérald Marie, den ehemaligen Europachef der mächtigen Modelagentur Elite, aus.

Gerald Marie, Chef der Elite-Modelagentur, 2004 während einer Pressekonferenz.
Foto: LIU JIN / AFP

"Es hat mich 20 Jahre lang verfolgt", sagt Lisa Brinkworth, eine ehemalige BBC-Journalistin, die die seit September 2020 laufenden Ermittlungen der Pariser Staatsanwaltschaft gegen Gérald Marie ins Rollen gebracht hat. "Die Zeit ist reif. Er war zu lange unangreifbar", urteilt die 54-Jährige. Die Agentur Elite ist bekannt, weil sie unter anderen Topmodels wie Claudia Schiffer, Naomi Campbell und Cindy Crawford unter Vertrag hatte. Brinkworth hatte 1998 verdeckt für eine Reportage über sexuellen Missbrauch von Minderjährigen recherchiert. Dabei hatte sie auch Gérald Marie getroffen.

In einem Nachtklub in Mailand habe Marie sich breitbeinig auf ihren Schoß gesetzt und sei mit seinem Penis in sie eingedrungen, erzählt sie. "Ich habe mich völlig machtlos gefühlt. Er hat immer weitergemacht, obwohl ich Nein, Nein, Nein gesagt habe", erinnert sich Brinkworth.

Ehemalige Models bekräftigen Vorwürfe

Das frühere schwedische Model Ebba Karlsson, das vergangene Woche mit den Ermittlern sprach, schilderte, dass Marie ihr zu Beginn ihrer Karriere Fotos bekannter Models gezeigt habe. "Wenn du berühmt werden willst, musst du dich hingeben", habe der Agenturchef gesagt. "Während er das sagte, schob er seine Hand unter meinen Rock und penetrierte meine Vagina mit seinen Fingern."

"Ich habe mich gefühlt, als habe mir jemand den Kopf abgeschnitten", beschreibt die heute 51-Jährige den Übergriff. "Es hat Jahre gedauert, bis ich mich in meinem weiblichen Körper wieder sicher gefühlt habe."

Marie weist alle Vorwürfe entschieden zurück, wie seine Anwältin Céline Bekerman betont. Ende vergangenen Jahres hatte sich allerdings auch seine Ex-Frau, das Supermodel Linda Evangelista, hinter die mutmaßlichen Opfer sexueller Übergriffe von Marie gestellt.

In New York hat ihn unterdessen das ehemalige Model Carre Otis geklagt, das zeitweise mit US-Schauspieler Mickey Rourke verheiratet war. Die Schauspielerin wirft Marie vor, sie "unzählige Male" vergewaltigt zu haben, als sie 17 Jahre alt war. Am Dienstag wurde auch sie von den Ermittlern in Paris vernommen. Anschließend trat Otis an der Seite von fünf anderen Ex-Models vor die Presse: "Schließt euch uns an!", sagte sie sichtlich aufgewühlt an die Adresse anderer möglicher Opfer des Agenturchefs. "Es ist Zeit, dass dieser Mann für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird."

Warten auf Aussagen weiterer möglicher Opfer

Viele der mutmaßlichen Missbrauchsfälle sind nach französischem Recht verjährt. Brinkworth hofft darauf, dass die Frist aufgehoben werden kann, weil sie durch eine Vereinbarung zwischen der BBC und der Elite-Agentur zum Schweigen verpflichtet war. Außerdem hoffen die Models, dass sich ein Opfer melden könnte, in dessen Fall die Vergehen noch nicht verjährt sind.

Seit Beginn der Ermittlungen haben sich nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP etwa 15 Frauen öffentlich geäußert oder bei der zuständigen Brigade für Vergehen gegen Minderjährige gemeldet. Die Vorwürfe reichen von sexueller Belästigung bis hin zu Vergewaltigung. Etwa ebenso viele weitere Frauen zögern offenbar noch, ähnliche Vorwürfe publik zu machen. Karlsson hofft, dass noch andere Opfer "den Mumm, den Mut haben, das Wort zu ergreifen". "Wir sind jetzt mächtig", fügt die Schwedin hinzu. (APA, red, 8.9.2021)