Im Gastkommentar geht Mark Leonard, Direktor des European Council on Foreign Relations, auf die neue Politik des US-Präsidenten ein und erklärt, wie der Abzug aus Afghanistan da hineinpasst.

Die Bilder verzweifelter Afghanen, die auf der Flucht vor den Taliban über den Zaun des Flughafens in Kabul klettern, sind ein schockierender Beleg unserer geopolitischen Gegenwart. Die Brutalität, mit der die Verbündeten des Westens in Afghanistan ihrem Schicksal überlassen werden, zeigt wie unter dem Brennglas, wie entschlossen die US-Regierung unter Präsident Joe Biden alte internationale Verpflichtungen abschüttelt und ihre neue Strategie verfolgt.

Kritik am Abzug der USA aus Afghanistan prallt an ihm ab: US-Präsident Joe Biden.
Foto: imago images/UPI Photo

Am übereilten Rückzug der USA aus Afghanistan gibt es viel zu kritisieren, nicht zuletzt die Vernachlässigung der Rechte afghanischer Frauen und Mädchen, das Versagen der Nachrichtendienste und mangelhafte Planung. Einem großen Teil dieser Kritik liegt jedoch eine unerschütterliche Nostalgie, ja sogar Trauer, über das Ende einer Ära zugrunde. Die Intervention in Afghanistan unter Führung der USA, die vor 20 Jahren begonnen hatte, war das letzte Überbleibsel einer anderen Welt, die von der Suche nach einer liberalen internationalen Ordnung und der ausdrücklichen Mission geprägt war, auch entlegenen Regionen der Welt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu bringen. Viele im Westen, die Bidens Politik angreifen, stören sich in Wirklichkeit an der Rückkehr des brutalen geopolitischen Wettstreits.

Um Bidens Entscheidung zu verstehen, müssen wir das Wesen dieser neuen Zeit begreifen. Dieselben Kräfte der Globalisierung, die uns zu Beginn der westlichen Mission einander nähergebracht haben, treiben uns nun auseinander. Weltweite Lieferketten, Massenmigration und blitzschnelle Informationsflüsse wurden von einer sprunghaft steigenden Ungleichheit begleitet, die eine Epidemie des Neids auslöst, in der sich jeder, egal wo er lebt, mit den Privilegierten dieser Welt vergleicht. Diese Kräfte waren Geburtshelfer einer Politik, die sich um das Gefühl der Benachteiligung, Identität und eine Gegenreaktion gegen den Internationalismus dreht und vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und dessen zahlreichen Nachahmern in aller Welt verkörpert wird.

"Heute erinnert die Großmachtpolitik an eine zerrüttete Ehe: Die Partner hassen sich, können sich aber nicht scheiden lassen."

In diesem Zusammenhang muss jeder US-Präsident der Stimmung im eigenen Land – eine schlagkräftige Kombination von "America First" und dem weitverbreiteten Misstrauen gegenüber Eliten – Rechnung tragen, die sich einen Rückzug aus allen Verwicklungen im Ausland wünscht. Die Amerikaner wollen, dass ihre Regierung angesichts der unpersönlichen Kräfte der Interdependenz wieder die Kontrolle übernimmt. Sie akzeptieren nicht länger, dass das Land in fernen Ländern Menschenleben und viel Geld opfert, um die Welt zu stabilisieren, während sich an der Heimatfront die Probleme häufen.

Biden muss in einer neuen Welt agieren, in der Länder genau die Dinge, die sie verbinden, als Waffen gegeneinander einsetzen. In den letzten Jahrzehnten haben wir Zäune und Grenzen abgebaut und ein weltweites Netz gewoben, das Menschen und Länder verbindet. Heute erinnert die Großmachtpolitik an eine zerrüttete Ehe: Die Partner hassen sich, können sich aber nicht scheiden lassen. Nur verletzen die rachsüchtigen geopolitischen Partner sich nicht über die Kinder oder den Hund, sondern greifen dafür auf Handel, Finanzen, Migration, Pandemien, den Klimawandel und das Internet zurück.

Nicht Krieg, nicht Frieden

Die Abhängigkeitskonflikte häufen sich. Länder verweigern einander den Handel, Schutzmasken, Impfstoffe, die globale Finanzwirtschaft oder Mineralien. Andere setzen auf Cyberangriffe und Desinformationen oder instrumentalisieren grenzüberschreitende Flüchtlingsströme. Diese modernen Methoden erfüllen nicht die herkömmliche Definition eines Krieges, aber auch sie töten und betreffen weit mehr Menschen als jeder bewaffnete Konflikt.

Deshalb bringt das Ende des "ewigen Krieges" in Afghanistan auch keinen Frieden. Die Taliban konnten ihre Gegner im eigenen Land dazu bringen, sich kampflos zu ergeben, weil sie den Informationsfluss kontrollierten. Die zu erwartenden massiven Migrationsströme aus Afghanistan bieten Belarus und anderen Staaten, die unsere westliche Demokratie untergraben wollen und mithilfe staatlich gesponserter Internettrollen Ängste schüren und die Gesellschaft spalten, reichlich Munition. Gleichzeitig werden die USA versuchen, wieder mehr Einfluss auf Afghanistan zu gewinnen, indem sie Hilfsströme und den Zugang zum Dollar manipulieren.

Dies ist nicht Krieg im herkömmlichen Sinne, aber genauso wenig ist es Frieden. Vielmehr ist die Welt in eine Zeit des Unfriedens oder des ständigen Wettstreits zwischen mächtigen Staaten eingetreten, in dessen Zentrum die amerikanisch-chinesische Rivalität steht. Laut der Biden-Regierung liegt die neue Grenze der Freiheit weniger in den regierungsfreien Regionen Afghanistans als in der Kontrolle über die globale Wirtschaft und Infrastruktur, künstliche Intelligenz und Technologie. Weil Biden entschlossen ist, die USA in dieser neuen Zeit wettbewerbsfähig zu machen, hat er den Abschied von der alten ohne zu zögern angeordnet.

"Amerika kann die Welt nicht mehr so einfach in die Zukunft führen wie zu der Zeit, in der es die einzige Supermacht war. Es wird dazu Bündnisse brauchen, die weniger auf militärische Macht setzen als auf die Waffen der Verbundenheit."

Nun steht er vor der Aufgabe, ein Bündnis zu schmieden, das in dieser Zeit des Unfriedens bestehen kann. Der Start ist ihm jedoch missglückt. Viele Regierungen haben Kräfte nach Afghanistan geschickt, um den USA zu gefallen, ihr Engagement sich selbst und ihren Bürgern jedoch als Einsatz für die universellen Werte verkauft, die Amerika angeblich unterstützt. Sie werden nicht vergessen, wie schnell die USA neue Prioritäten gesetzt haben, und die Bilder der amerikanischen Inkompetenz in Kabul werden nur langsam verblassen.

Amerika kann die Welt nicht mehr so einfach in die Zukunft führen wie zu der Zeit, in der es die einzige Supermacht war. Es wird dazu Bündnisse brauchen, die weniger auf militärische Macht setzen als auf die Waffen der Verbundenheit. Für die Länder Europas ist dies Chance und Herausforderung zugleich. In Afghanistan haben sie erst ihre Geostrategie an Amerika delegiert und dann über den Machtverlust gejammert, den sie nach den Terrorangriffen vom 11. September so kleinlaut akzeptiert hatten. Jetzt müssen sie lernen, sich in den neuen Arenen des Wettstreits durchzusetzen, bevor sie neue Verfahren der Kooperation mit den USA und anderen Verbündeten erproben können.

Der ewige Krieg ist endlich vorbei. Das Zeitalter des Unfriedens hat begonnen. (Mark Leonard, Copyright: Project Syndicate, 9.9.2021)