Wie könnte eine nachhaltige Strategie gegen den Talibanismus aussehen? Im Gastkommentar erläutert Islamwissenschafter Reinhard Schulze die Ursprünge der Taliban-Bewegung. Und er beschreibt, welches gesellschaftspolitische Ziel man in Afghanistan verfolgen sollte.

Ein Mann übermalt nach der Machtübernahme der Taliban Wandmalereien in Kabul. Ersetzt werden sie durch Propagandabotschaften.
Foto: AFP / Aamir Qureshi

Die Lebens- und Vorstellungswelten der Taliban spielen bei der Frage, welche nachhaltige Strategie gegen ihre Herrschaft ergriffen werden sollte, bisher eine eher untergeordnete Rolle. Die Taliban wurden vor allem als politisches und militärisches Problem gesehen. Doch Lösungsansätze, mit denen die Macht der Taliban gebrochen werden könnte, müssen scheitern, solange sie nicht in der Lage sind, die Anziehungskraft der Taliban in der sehr heterogenen afghanischen Gesellschaft zu neutralisieren. Es braucht daher eine gesellschaftspolitische Strategie, die den Taliban die Ressourcen entzieht, mit denen sie ihre Macht durchsetzen.

Die Gründungslegende

Den Talibanismus gibt es seit etwa 27 Jahren. Angefangen hat es einer Gründungslegende der Taliban zufolge im April 1994, als Molla Umar, Lehrer an einer religiösen Schule puritanischer Orthodoxer in der Provinz Kandahar, mit Gesinnungsfreunden einen lokalen Machthaber, der zwei Mädchen entführt hatte, mit Waffengewalt zur Rechenschaft zog. Der lokale Fürst habe den Sitten- und Regelkodex der paschtunischen Gemeinschaften verletzt. Damals herrschte schon fast 20 Jahre Krieg in Afghanistan, mit stets wechselnden Schauplätzen. Der Krieg hatte die Macht und Reichweite des komplexen, meist mündlich überlieferten Regel- und Sittengesetzes der Paschtunen massiv beschränkt. Vor allem lokale Fürsten und Parteigänger islamischer Ideologien sahen sich durch den Krieg ermächtigt, diese Sittenordnung zumindest für sich außer Kraft zu setzen.

Nutznießer dieses Konflikts waren die Angehörigen einer aus Indien stammenden islamischen Orthodoxie, die ihre Rechtgläubigkeit in einer sehr strikten puritanischen Gemeinschaftspraxis umsetzten. Die Deobandis hatten sich im 19. Jahrhundert in Nordindien formiert und wirkten vor allem über Schulen. Eine wichtige Lehrstätte namens Haqqania entstand im pakistanischen Paschtunengebiet.

"Anfangs galten die 'Studenten' (Taliban) dieser Lehrstätten als Exoten."

Auch Molla Umar hat eine Zeitlang an der Haqqania studiert. Er war einer, der die Schulbewegung nach Südafghanistan gebracht und dort beheimatet hatte. Anfangs galten die "Studenten" (Taliban) dieser Lehrstätten als Exoten, doch ihre aktive Teilnahme am Widerstand gegen die sowjetischen Truppen wertete ihre soziale Stellung deutlich auf. Je mehr sich die Kriegsherren über das paschtunische Sittengesetz hinwegsetzten, desto lauter wurde der Ruf der Taliban, dass nur der Islam den Erhalt der paschtunischen Sittenordnung sichern könne.

Sie fusionierten ihre puritanische orthodoxe Deutung des Islam mit dem überlieferten Sittengesetz. So bestimmten sie das Tragen der Burka, also des paschtunischen Ganzkörperschleiers der Frauen, als Regelung, die vom islamischen Recht begründet sei. Ebenso wurde die Regel des Sittengesetzes, das den öffentlichen Verkehr von Frauen nur gestattet, wenn diese von einem männlichen Verwandten begleitet werden, als orthodoxe islamische Normenordnung definiert.

Ein paschtunischer Islam

Wie plausibel diese Fusion von überliefertem Sittengesetz und orthodoxem Islam war, zeigt sich in der schnellen Ausbreitung des Talibanismus zwischen 1994 und 1997. Viele erachteten den Islam, wie ihn die deobandischen Taliban predigten, nicht nur als kompatibel mit der eigenen paschtunischen Tradition, sondern geradezu als deren Bewahrer und Garant. Im Kern propagiert der Talibanismus also einen paschtunischen Islam. Dieser wiederum trug erheblich dazu bei, dass sich die Paschto sprechenden Gemeinschaften immer stärker einer großen Föderation paschtunischer Stämme zugehörig fühlten. Die Talibanisierung der sozialen Ordnung der Paschtunen kreierte zugleich einen kulturellen Standard, der sich in Bekleidungsmoden, Sprache und Lebensstilen niederschlug.

Unter "Talibanisierung" müssen wir nun alle Bemühungen verstehen, in Afghanistan bestehende überlieferte Sittengesetze und Sittenordnungen mit einer islamischen Orthodoxie zu fusionieren. Da auch unter anderen ethnischen Gruppen solche Sittengesetze verbreitet sind, erstreckt sich die Talibanisierung nicht allein auf die Paschtunen, man begegnet ihnen auch bei Tadschiken und Usbeken.

Kein isoliertes Problem

Der paschtunische Islam der Taliban ist also weder eine "Perversion des Islam" noch "Ausdruck einer urislamischen Eigentümlichkeit". Manche könnten deshalb verleitet sein zu sagen: Nun, wenn der Talibanismus nur ein afghanisches Problem ist, dann sollen doch die Afghanen selbst damit klarkommen. Hauptsache, die Taliban stellen die Sicherheit im Lande her und garantieren, dass das Land nie wieder zum Rückzugsgebiet von Terroristen und Jihadisten wird. Das ist aber zu kurz gedacht. So sehr es sich die Taliban auch wünschten, ist Afghanistan kein isolierter Fleck auf der Landkarte, sondern nicht weniger in die Moderne eingebettet als Indien, Pakistan oder Iran. Der Talibanismus ist damit nur bedingt allein ein afghanisches Problem.

Die Taliban sind in erheblichem Maße von Legitimität abhängig. Dies gilt sowohl innen- wie außenpolitisch. Legitimität bedeutet hier vor allem die aktive oder stillschweigende Zustimmung zu ihren Ordnungsvorstellungen und ihrer Rechtfertigung, dass sie die verschiedenen Sittengesetze des Landes angemessen durch ihre islamische Orthodoxie repräsentieren. Wenn diese Zustimmung bröckelt, erodiert die Macht der Taliban, die aufgrund ökonomischer und gesellschaftspolitischer Umstände noch lange nicht gesichert ist.

Moderne Ordnung

Was aber wäre eine nachhaltige Strategie? Das gesellschaftspolitische Ziel wäre ja eine Ordnung, in der die urbanen Lebens- und Vorstellungswelten moderner westlicher Teile der Bevölkerung genauso repräsentiert sind wie die eher ländlichen Vorstellungswelten, die auf autonomen sittengesetzlichen Ordnungen beruhen. Ziel müsste es sein, dass sich beide Ordnungen gegenseitig anerkennen und Frieden schließen. Die modernen Städter müssten zu erkennen geben, dass sie die ländliche Ordnung respektieren und schützen. Genauso müsste die Landbevölkerung ihre Wertschätzung der urbanen Lebenswelten zum Ausdruck bringen. Bisher beherrschten vor allem die Angehörigen der Nobilität in Afghanistan das Spiel, auf beiden Hochzeiten zu tanzen. Doch durch den Krieg und die begleitende Korruption haben sie ihr Gesicht und damit ihre Macht weitgehend verloren.

Jetzt sind die neuen urbanen Eliten gefordert. Sie müssten zeigen, dass ihre Vorstellung von einer modernen Ordnung, die auch den lokalen islamischen Traditionen einen festen Ort zuweist, dem Prinzip der Sittengesetze und Moralordnungen der ländlichen Stammesgemeinschaften hinreichend Raum lässt, sich zu entfalten und zu wirken. Sie müssten dafür werben, dass moderne urbane Lebenswelten genauso mit dem Prinzip sozial differenzierter Sittenordnungen fusionieren können wie es die puritanische Orthodoxie der Taliban vermochte. Und sie dürften den Anspruch erheben, dass solche Sittenordnungen nicht in Stein gemeißelt sind, sondern flexibel auf sich verändernde Umstände und den sozialen Wandel reagieren. Nur solch ein Gegenentwurf kann den Taliban die Legitimität entziehen, die die Grundlage ihrer Machtordnung darstellt. (Reinhard Schulze, 9.9.2021)