Alice Weidel findet nicht, dass die AfD-Forderung nach einem EU-Austritt Deutschlands Wählerinnen und Wähler verschreckt.

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Einen Triumph wird die AfD bei der deutschen Bundestagswahl Ende September wohl nicht feiern. Spitzenkandidatin Alice Weidel ist dennoch überzeugt, dass ihre Partei bald im Osten und vielleicht auch im Bund mitregiert. Dann gäbe es neben strikter Asylpolitik auch ein Comeback der Atomkraft.

STANDARD: Die AfD zog 2017 mit 12,6 Prozent erstmals in den Bundestag ein. In Umfragen liegt sie derzeit darunter. Was läuft schief?

Weidel: Die Situation ist anders als 2017. Damals, beim ersten Einzug, herrschte eine besondere Euphorie. Zudem treten bei dieser Wahl die Freien Wähler bundesweit an, auch die Corona-kritische "Basis". Dennoch rechnen wir mit einem soliden, zweistelligen Ergebnis. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass die AfD auf dem Weg nach oben ist.

STANDARD: Leiden Sie darunter, dass der AfD ihr Wahlkampfklassiker – nämlich die Flüchtlingskrise – abhandengekommen ist?

Weidel: Nein. Die Probleme von 2015 sind ja nicht gelöst. Wir haben nach wie vor keine kontrollierten Grenzen. Nun spricht unser Außenministerium von 70.000 Schutzwürdigen aus Afghanistan. Da sagen wir klar: Das Land verkraftet weiteren Zuzug aus kulturfremden Räumen nicht.

STANDARD: 2017, als die AfD stärkste Oppositionskraft wurde, drohte Ihr Co-Fraktionschef Alexander Gauland der Regierung mit "Wir werden Sie jagen!". Ist das gelungen?

Weidel: Natürlich haben wir die Regierung mit unserer akribischen parlamentarischen Arbeit gejagt. An der AfD kommt man bald strategisch nicht mehr vorbei. In den nächsten beiden Legislaturperioden rechne ich mit Regierungsbeteiligungen im Osten. Und dann werden wir im Bund sehen.

STANDARD: Kann es sein, dass die AfD wohl nicht vor einem weiteren Wahltriumph steht, weil sie beispielsweise einen EU-Austritt fordert und damit viele verschreckt?

Weidel: Das Wahlprogramm wurde auf dem Bundesparteitag beschlossen, dazu stehen wir. Wir kritisieren die erheblichen demokratischen Defizite, etwa eine nicht gewählte Kommission als Exekutive und auch die Vertragsverletzungen im Zuge der sogenannten Euro-Rettung. Wenn die EU sich nicht reformiert, muss man über einen Austritt nachdenken.

STANDARD: Das tun in Deutschland nur sehr wenige Menschen. Auch Ihre Wählerinnen und Wähler wollen freien Reise- und Warenverkehr.

Weidel: Der freie Binnenmarkt mit freiem Waren-, Personen- und Arbeitnehmerverkehr funktioniert auch ohne eine EU. Beim undemokratischen Brüsseler Wasserkopf besteht Korrekturbedarf. Zudem dürfen die nationalen Parlamente, in denen gewählte Abgeordnete sitzen, nicht ausgehebelt werden.

STANDARD: Haben Sie sich auch bei Corona verspekuliert? Sie treten für Eigenverantwortung ein. Viele bejahen aber aus Sorge wegen der Krankheit die Maßnahmen der Regierung.

Weidel: Das kann ich so nicht erkennen. Wir treten klar dafür ein, dass es keinen weiteren Lockdown geben darf. Die Bürger dürfen nicht ihrer Freiheit beraubt werden. Eine Diskriminierung von Ungeimpften lehnen wir strikt ab. Es ist extrem gefährlich, dass ihnen Rechte entzogen werden, die allen Bürgern vom Grundgesetz her zustehen.

STANDARD: Alle Parteien wollen das Klima schützen. Warum hält sich die AfD zurück?

Weidel: Auch uns ist Umwelt- und Naturschutz ein großes Anliegen. Aber wir halten den deutschen Sonderweg für völlig falsch. Deutschland kann seinen Strombedarf nicht allein aus erneuerbaren Energien decken und hunderttausende Arbeitsplätze in der Energiewirtschaft und der Automobilindustrie schleifen.

STANDARD: Eine AfD in Regierungsverantwortung würde Atomkraft wieder aufleben lassen?

Weidel: Richtig. Und zwar mit weiterer Forschung und zukunftsfähigen Atomreaktoren der neuen Generation.

STANDARD: Niemand will mit der AfD regieren.

Weidel: Eine Partei rechts von CDU/CSU hat in Deutschland grundsätzlich einen Paria-Status. Aber wir sind sehr gut aufgestellt und werden in Zukunft eine strategisch wichtige liberal-konservative Kraft sein. An der AfD wird man langfristig nicht vorbeikommen.

STANDARD: Es gibt AfD-Politiker, die man laut Gerichtsbeschluss als Neonazis bezeichnen darf. Gehört das auch zu Ihrer Liberalität?

Weidel: Unsere Mitglieder stehen auf dem Boden des Grundgesetzes. Ich würde mir wünschen, dass man solche Gerichtsbarkeit auch im linken Spektrum anwendet. Wir haben ein extremes Linksextremismus-Problem bei den Parteien Linke, SPD und Grüne. Da sollte der Verfassungsschutz ein Auge drauf werfen.

STANDARD: Die AfD lobt immer wieder Sebastian Kurz. Warum eigentlich? Er gehört zur politischen Konkurrenz.

Weidel: Das bezieht sich in erster Linie auf seine Aussagen im Bereich der Migrationspolitik, insbesondere im Hinblick auf Afghanistan. Man wird sehen, ob es nicht bei bloßen Ankündigungen bleibt. (Birgit Baumann, 9.9.2021)