Die Werke des in Berlin lebenden Künstlers sollen nicht dokumentiert werden. Videos und Fotos sind nicht erlaubt.
Foto: Jean Baptiste Béranger

Einen Termin für ein Telefongespräch mit Tino Sehgal zu finden ist aktuell nicht unbedingt einfach. Gerade war der in Berlin lebende Künstler noch zu Besuch im niederösterreichischen Melk, wo er eine Ausstellung sowie einen Vortrag zur Globart Academy beitrug. Nun ist er nach Graz gereist, wo er zum Auftakt des Steirischen Herbsts eine neue Arbeit aufführen wird. Vier Tage lang wird diese dann von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erstmals an einem öffentlichen Ort (in der Augartenbucht sowie der Augartenallee) zu sehen sein – wer nicht live dabei ist, verpasst sie. Nachgeschaut werden kann hier nichts. Dazu aber später mehr.

1976 in London geboren, wuchs Sehgal in Baden-Württemberg auf. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Tanz an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit musste er sich recht fertigen, wieso seine Kunst tatsächlich Kunst sei. Heute gilt er als einer der erfolgreichsten Künstler der Gegenwart. Mit knapp 30 Jahren vertrat er 2005 gemeinsam mit Thomas Scheibitz Deutschland auf der Biennale in Venedig, 2013 wurde er dort mit dem Goldenen Löwen als bester Künstler ausgezeichnet. Er verzichtet auf Flugreisen und gilt als Kritiker der Umweltpolitik großer Kunsteinrichtungen. Es waren politische Gründe, die ihn antrieben, Künstler zu werden.

Seine Werke finden sich zwar in den Sammlungen der wichtigsten Museen der Welt, wie dem Museum of Modern Art oder der Tate Modern, verbrauchen dort aber keinerlei Platz. Sie lagern weder in Depots, noch stehen sie auf Bestands listen. Denn Sehgal erschafft keine Objekte und stellt nichts im materiellen Sinn her. Seine Kunstwerke passieren nur in dem Moment, in dem sie aufgeführt werden. Und dokumentiert werden sie nicht. Das Credo: maximale Flüchtigkeit.

Schmusende Live-Installation

Der Künstler möchte nicht, dass seine Arbeiten auf irgendeine Weise festgehalten werden: Ergo gibt es keine Videos, Fotos oder schriftlichen Verträge – alles wird mündlich vereinbart. Seine Werke sollen nur in Erinnerungen und Erzählungen fortbestehen. Heimliche Mitschnitte auf Youtube findet man natürlich trotzdem, dies könne er nicht verbieten, sagt der Künstler. Das Thema scheint ihm aber bereits leidig; er stellt die rhetorische Frage, ob jemand etwa einen Theaterabend filmen und sich das danach ansehen würde. "Viel entscheidender ist es doch, was da passiert."

Doch was genau passiert in seinen Arbeiten? Im Zentrum der Praxis des ehemaligen Tänzers stehen Menschen und ihre Körper, die miteinander oder dem Publikum im Ausstellungsraum interagieren. Gesang, Sprache, Laute, Bewegungen, Tanz verbinden sich zu einer eigenen Form der Kommunikation – zu "konstruierten Situationen". Die Bezeichnungen Choreografie oder Performance hingegen verwendet der Künstler ungern. Denn im Gegensatz dazu ereignen sich seine Werke nie zu einem exakt planbaren Zeitpunkt. "Vielmehr bestehen sie in der Tradition von Installation und Skulptur", sagt Sehgal. "Ähnlich einer Live-Installation."

So legte er beispielsweise in der 2002 entstandenen Arbeit Kiss zwei Personen auf den Museumsboden und ließ sie heftig schmusen: Sie schmiegten ihre Körper aneinander, rollten zwischen den Besuchern herum – ohne sich von diesen stören zu lassen. Und nahmen dabei auf ausgestellte Skulpturen und Vorbilder der Kunstgeschichte wie Der Kuss von Rodin, Klimt oder Brâncuși Bezug. Oft wiederholt er bekannte Stücke und ergänzt sie um Neues.

Kunstfans bis Gassigänger

Vergangenes Jahr inszenierte Sehgal in der gelungenen Ausstellung Beethoven bewegt im Kunsthistorischen Museum in Wien. In Kooperation mit dem Festival Impulstanz traten in This Joy in einem leeren Saal Personen auf, die in unterschiedlichen Variationen Stücke des großen Komponisten vokal und tänzerisch interpretierten. Seine bisher einzige Einzelausstellung in Österreich richtete das Kunsthaus Bregenz 2006 aus. Die Süddeutsche Zeitung nannte ihn danach "Zeremonienmeister für Zeitgenössisches".

Inwiefern sich diese Zeremonien nun beim Steirischen Herbst wandeln werden, wird man in den nächsten Tagen sehen. Denn erstmals lässt Sehgal sein Team nicht in einem geschlossenen Raum wie einem Museum oder einer Gartenanlage auf das Publikum los, sondern in öffentlichen Parks. Dieses kann vom interessierten Kunstfan, einer Gruppe Jugendlicher bis zur morgendlichen Hundespaziergängerin reichen. Dieses experimentelle Format sieht Sehgal als neue Steigerung seiner Praxis. Vor 20 Jahren hätte er noch nicht so viel Selbstvertrauen gehabt, sagt er: Der große Unterschied liege darin, dass sich im Augarten viele nicht bewusst zu dieser Begegnung entschieden hätten. Ob die Grazer dann da mitmachen, müsse man abwarten.

Um aber die unvorhersehbare Situation im Augarten zu kompensieren, reist Sehgal mit einem Team von etwa 35 Darstellern und Darstellerinnen an. Die Anzahl der Personen soll die fehlende Rahmung ausgleichen: "Wenn nur eine Person etwas Ungewöhnliches macht, würde man sich nur wundern. Bei 30 Menschen, fragt man sich: Was ist denn hier los?" (Katharina Rustler, 9.9.2021)