Wilder Genremix: die kauzigen Helden aus "Freaks Out".

Foto: Filmfestival Venedig

Eine der letzten Ehrungen auf der Mostra vor der Preisvergabe am Samstag gilt Jamie Lee Curtis. Mit Piloten-Rayban, den anthrazitfarbenen Blazer passend zu den grauweißen Haaren gewählt, dockte die 62-jährige US-Schauspielerin am Lido an, wo sie den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk entgegennahm. Den passenden Film hatte sie auch dabei: In Halloween Kills stellt sie sich unter der Regie von David Gordon Green noch einmal ihrem unverwüstlichen Widersacher Michael Myers, der sie vor unglaublichen 43 Jahren das erste Mal das Fürchten lehrte – und sie zum ewigen "last girl" des Horrorkinos werden ließ.

Dass sich Venedig vor dem gerne belächelten B-Movie-Fach verneigt, erklärte sich Curtis im Vorfeld mit der Liebe der Italiener zum Genrekino. Damit hat sie nicht unrecht. Im Wettbewerb konnte man beispielsweise mit Gabriele Mainettis Freaks Out eine wilde Kreuzung aus NS-Widerstandsdrama, Außenseiterode und fantastischer Zirkushommage sehen, die sich von Tarantinos Inglourious Basterds die Idee abgeschaut hat, dass man bei Geschichtsdarstellungen im Kino mit spekulativen Witz oft besser fährt.

Krieg im Zirkus

Mainetti demonstriert lustvoll Eigensinn, denn seine vier Helden sind ein ganzkörperbehaarter Wolfsmann, ein magnetischer, etwas dümmlicher Clown, ein Albino, der Insekten dirigieren kann, und ein Mädchen, das im wahrsten Sinne des Wortes elektrisierend wirkt. Inmitten der Kriegswirren werden sie im von den Nazis besetzten Rom auseinandergerissen: Drei von ihnen geraten in die Hände eines von Franz Rogowski verkörperten NS-Zirkusdirektors, der sich als der allergrößte Freak erweist. Eine Rettungsmission ist vonnöten, mit der die Fronten des Krieges in die Arena des Circensischen verschoben werden.

Freaks Out als die Arthouse-Variante eines modernen Blockbusters zu bezeichnen, wäre zu niedrig gegriffen. In seiner Unbedingtheit, mit er das Fantastische als Sphäre der Freiheit verteidigt, erinnert der Film an Arbeiten Guillermo del Toros (Shape of Water). Die kauzigen Figuren besitzen weitaus mehr Poesie als die gängigen Marvel-Hochleistungsakrobaten, ihre Fähigkeiten beweisen sie erst im Team. Bei aller Skurrilität scheut Mainetti jedoch auch die Drastik des Krieges nicht. Der Film spielt alle Stücke, wenn er von grausamer Folter, Deportationen oder auf Krücken humpelnden Widerstandskämpfern erzählt, die dem Blutrausch verfallen sind.

Jedes internationale Festival gewährt dem nationalen Kino besondere Privilegien. In diesem Jahr müssen die Filme aus Italien den Vergleich mit der Konkurrenz allerdings nicht fürchten. Mario Martone hat mit Qui rido io einen Film über den Theaterzampano Eduardo Scarpetta (Toni Servillo) am Start, der von dem Urheberrechtsstreit erzählt, mit dem man den Volkskomödianten 1904 ruinieren wollte. Eine Theaterbühne ist in dieser cleveren Groteske nicht nur das Gericht, sondern auch das Privatheim Scarpettas, der dort gleich mit mehreren Frauen und fast einem Dutzend Kinder lebt – eine Vorform des Künstlers als toxisches Raubtier, dem Martone durchaus ambivalente Seiten abgewinnt.

Gedreht wurde Qui rido io vom legendären Kameramann Renato Berto, der auch Michelangelo Frammartinos Il buco visuelle Grandezza verleiht. Der bisher experimentellste Wettbewerbsfilm rekonstruiert eine Höhlenexpedition in Kalabrien aus dem Jahr 1961. Frammartinos Blick auf diese wie aus der Zeit gefallene Naturlandschaft befreit sich von erzählerischen Zwängen und begleitet das Nebeneinander von zyklischem Leben und Entdeckertum – pures, sinnliches Kino der Entschleunigung. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 9.9.2021)