Für die Altertumswissenschafterin ist ein Traum in Erfüllung gegangen, den viele Kolleginnen und Kollegen hegen: Giulia Rossetto entdeckte einen bisher unbekannten Text aus der Antike, und das noch während ihres Doktoratsstudiums an der Universität Wien. Bei dem spektakulären Fund handelt es sich um mittelalterliche Pergamentblätter, die die Forscherin im Rahmen des "Sinai Palimpsests Project" untersuchte.

Giulia Rossetto von der ÖAW und das ägyptische Katharinenkloster, wo die Handschrift gefunden wurde.
Foto: privat

Auf ihnen sind bisher unbekannte Texte aus der Zeit Homers festgehalten. Um diese zu entschlüsseln, war einiges an Vorarbeit notwendig: Die Geschichten wurden nämlich in späteren Jahrhunderten mit anderen Texten überschrieben. Ein Artikel über die einzigartige Entdeckung wurde jetzt in der "Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik" veröffentlicht.

Mühsam entzifferte Rossetto, die nun am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) forscht, die ausradierte Schrift auf den beiden Pergamentblättern Buchstabe für Buchstabe. Dabei kamen ihr Methoden wie die Multispektralfotografie und die computergestützte Bildanalyse zugute. So war es ihr möglich, das Fragment, das nur in sehr schlechtem Zustand erhalten ist, lesbar zu machen.

Rossetto setzte für ihre Analyse virtuell die drei erhaltenen Fragmente des Textes zusammen.
Bild: Katharinenkloster, Sinai, Ägypten

Spielzeuge für Dionysos

Dass es sich dabei um einen bedeutsamen Text handeln dürfte, wurde ihr bewusst, als der Name des antiken Gottes des Weines, Dionysos, erwähnt wurde. "Es ist ein poetischer Text in Hexametern, also dem klassischen Versmaß der epischen Dichtung", sagt Rossetto. "Dieser entstammte einem Epos, das ursprünglich wahrscheinlich 24 Bücher umfasste und dessen Existenz bisher nur indirekt belegt war."

Der Text erzählt von der Kindheit des Gottes Dionysos. Um das Kind abzulenken, setzten Widersacher – die Titanen – Spielzeug und Geschenke ein. "Diese Details waren bisher nur aus der indirekten Überlieferung, also aus Zitaten in anderen Werken, bekannt", sagt Claudia Rapp von der Universität Wien, die an der ÖAW die Abteilung Byzanzforschung leitet. "Jetzt haben wir zum ersten Mal den Originaltext vorliegen, auf den diese Zitate zurückgehen."

Rossetto übersetzte die 89 Versteile ins Deutsche. Ein Teil des Texts lautet: "Den Giganten gelang es nicht, Dionysos, den Sohn des Zeus und der Persephone, davon zu überzeugen, sich vom Königsthron zu erheben: weder mit irgendwelchen Gaben, die die weite Erde nährt, noch mit tückischen Täuschungen und drängenden Reden. Sogleich schmückten sie den Kopf des Sohnes des laut donnernden Zeus mit Kränzen aus lieblichen Blumen und schritten im Kreis einher, in der Absicht, ihn mit Ermahnungen und verführerischen Worten zu überzeugen, mit all den kindlichen Spielsachen und mit angenehmen Geschenken."

Methoden der Bildbearbeitung machten den ursprünglichen, teilweise auf Griechisch verfassten mythologischen Text (rötlich) sichtbar, über dem im zehnten Jahrhundert ein anderer Text auf Arabisch (schwarz) festgehalten wurde.
Bild: Katharinenkloster, Sinai, Ägypten

Papyrus-Recycling

Dabei weisen bestimmte Merkmale der Metrik und archaische griechische Wörter darauf hin, dass der Inhalt aus der Zeit Homers stammt, sagt Rossetto. Darüber hinaus werden andere Autoren zitiert, denen zufolge der Inhalt aus dem 7. bis 8. Jahrhundert vor Christus stammt.

Dieser Text wurde noch im 5. oder 6. Jahrhundert in Ägypten kopiert, worauf der Stil der Schrift einen Hinweis liefert. Das bedeutet, dass er offenbar noch bis in die Spätantike bekannt war, sagt Rapp: "Kulturgeschichtlich ist diese Entdeckung von größtem Interesse, denn sie zeigt, dass noch im 5. oder 6. Jahrhundert in Ägypten aktives Interesse an religiösen Texten aus der heidnischen Antike bestand, zu einer Zeit also, als das Christentum dabei war, sich im Römischen Reich fest zu etablieren."

Später schien dieses Interesse allerdings abzunehmen, immerhin wurde der Text ausradiert, beziehungsweise die Tinte abgewaschen oder abgekratzt. Das hängt auch mit dem Wert des Pergaments zusammen, das als kostbares Material zur Niederschrift von Texten mitunter auf diese Weise recycelt wurde. Dies bezeichnen Forschende als Palimpsest.

Zweisprachige Ursprungstexte

In diesem Fall wurden die Pergamentbögen im frühen zehnten Jahrhundert neu beschrieben: Im christlichen Kloster Mar Saba unweit von Jerusalem hielten arabischsprachige Mönche die Lebensläufe von Heiligen fest. Was danach mit den Pergamenten geschah, ist nicht bekannt. Erst ab dem Jahr 1975 gibt es wieder Informationen: Damals wurde im Katharinenkloster im Sinai ein Raum für nicht mehr genutztes Handschriftenmaterial erneut geöffnet.

Das Katharinenkloster, das im heutigen Ägypten liegt, ist das älteste bis heute bewohnte christliche Kloster und wurde im sechsten Jahrhundert gegründet. Die Bibliothek enthält tausende Manuskripte, darunter mehr als 160 Palimpsesthandschriften. Im Zuge des Sinai Palimpsest Project, das Claudia Rapp wissenschaftlich leitet, werden diese überschriebenen Handschriften von Forschenden lesbar gemacht und digitalisiert. Schon 74 Handschriften wurden bisher erfolgreich bearbeitet.

Die ursprünglichen Texte, die nun von Rossetto rekonstruiert wurden, sind in zwei verschiedenen Sprachen verfasst und stammen aus mindestens vier unterschiedlichen Mutterhandschriften. Bei den Sprachen handelt es sich um Griechisch und Christlich-Palästinisches Aramäisch. Letzteres ist eine liturgische Sprache, die seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr verwendet wurde. Sie ist vor allem bekannt durch Palimpseste wie den aktuellen Sensationsfund. (red, 9.9.2021)