Die SPD hat einen Wandel vollzogen, sagt der Politikwissenschafter Felix Butzlaff im Gastkommentar.

Die SPD hat sich nach langer Krise gefangen und einen neuen Anstrich gegeben – offenbar mit Erfolg: Spitzenkandidat Olaf Scholz punktet, zumindest einmal in Umfragen.
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Das derzeitige Umfragehoch der deutschen Sozialdemokraten wird im In- und Ausland vor allem mit dem Ende der Ära Angela Merkel erklärt. Dass der SPD derzeit 25 Prozent der Stimmen prognostiziert werden, nachdem sie über weite Strecken der vergangenen Legislaturperiode eher bei unter 15 Prozent Zustimmung firmierten, liege daran, dass Olaf Scholz als Vizekanzler von der Kanzlerin den Amtsinhaberbonus geerbt habe. Da die Kanzlerin nach 16 Jahren abtrete, stehe nun ihr Stellvertreter für Kontinuität und Stabilität in Deutschland. Mehr als Armin Laschet (CDU/CSU) und Annalena Baerbock (Bündnis 90 / die Grünen) sei Scholz den Wählerinnen und Wählern vertraut und stelle in Zeiten von Klimakrise und Pandemie eine Wahl des Bekannten und des geringeren Risikos dar. Überdies sei der Zuspruch für die Sozialdemokraten Ausdruck der Schwäche der christdemokratischen und grünen Konkurrenz, die von einem Fauxpas zum nächsten stolpert. So weit die einmütigen Kommentare.

Doch diese Deutungen übersehen, dass die SPD nach langen Jahren der Selbstschau und Introspektive einen Wandel durchgemacht hat und sie sich nun wieder stringenter und vor allem glaubwürdiger an früheren Erfolgsmustern orientiert. Sozialdemokraten in Deutschland wussten immer dann an den Wahlurnen zu überzeugen, wenn es ihnen gelang, breite Wählerkoalitionen aus oberen und unteren Mittelschichten zu schmieden – das berühmte Bündnis aus Mitte und unten. Dafür mussten der Zukunftsoptimismus und die Innovationsideen der aufstrebenden urbanen Mittelklassen mit den Sicherheitsanforderungen und Anerkennungsansprüchen derjenigen verbunden werden, die fürchteten, auf das soziale, kulturelle wie ökonomische Abstellgleis zu geraten.

Schweres Erbe

"Innovation und Gerechtigkeit!", versprachen 1998 Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine. Auch Willy Brandts Wahlsieg 1969 war Ergebnis einer Verbindung aus demokratie- und wirtschaftspolitischen Innovationen mit einer zentralen politischen Rolle der Gewerkschaften und der Absicherung von Arbeitnehmerrechten. Eine Verbindung von Sicherheit im Hier und Jetzt und der Schaffung einer neuen, besseren Gesellschaft in der Zukunft war stets der Humus, auf dem sozialdemokratische Überzeugungskraft gedieh.

Die SPD hat Wahlniederlagen erlitten, wenn sie einen Pfeiler dieser Zwei-Säulen-Statik vernachlässigte. Und in den vergangenen gut anderthalb Jahrzehnten nach der Einführung der Agendareformen und der Überarbeitung des Sozialstaats durch die Hartz-Gesetze hat es ihr an genau dieser Statik für das sozialdemokratische Programmgebäude oft gemangelt. Sie trug schwer an der Frage, wie mit dem Erbe der Sozialreformen umzugehen sei. Denn entweder geriet ihr der Wirtschaftsoptimismus allzu laut (wenn etwa statt von konkreten Rechten von sozialer "Fairness" gesprochen wurde) – oder aber die Betonung einer absichernden Sozialpolitik angesichts der eigenen Hartz-Vergangenheit zu unglaubwürdig.

Einschneidende Agenda 2010

Zwar ist auch Scholz’ Laufbahn eng mit der Agenda-Politik verknüpft, die er als damaliger Generalsekretär zu kommunizieren half. Allerdings hat er durch seine intensive Mitautorenschaft geholfen, dass die innere Statik des aktuellen Wahlprogramms sowohl mit den zwei notwendigen Pfeilern sozialdemokratischer Zukunftsgebäude als auch mit seinem persönlichen politischen Profil als Kandidat in Einklang zu bringen ist.

Als Arbeitsminister während der Weltfinanzkrise, als Finanzminister in Zeiten der Pandemie und als Erster Bürgermeister Hamburgs hat er in der Arbeitsmarkt-, Finanz- und Wohnungsbaupolitik klassisch sozialdemokratische Sozialstaatsprojekte prominent umgesetzt. Und mit der Betonung auf vier sehr konkret formulierte "Zukunftsmissionen" und dem Postulat einer "Gesellschaft des Respekts" als den beiden zentralen Abschnitten des Programms entwirft die SPD nun ein Panorama, welches wie kaum ein anderer Programmaufschlag in diesem Millennium der klassischen Vorstellung einer sozialdemokratischen Wählerkoalition entspricht.

Abgesicherter Wandel

Einerseits werden Klima-, Mobilitäts-, Digitalisierungs- und Gesundheitsthemen als Felder für dringend nötige Innovationsschübe ausgemacht.Die Imperative der Klimakrise und die Erfahrungen von anderthalb Jahren Pandemie werden in einer sehr klaren und einfachen Sprache in Politikvorschläge gegossen, die nicht einfach nach Minimalkompromissen klingen. Gerade bei der Verkehrswende und Klimapolitik gehen die Forderungen über die Selbstverpflichtungen bisheriger SPD-Programmatiken hinaus. Doch diese werden eben, andererseits, verbunden mit der Versicherung, dass der notwendige Wandel immer mit einer Absicherung derjenigen zu erfolgen habe, die Veränderung und Reform nicht unbedingt euphorisch begrüßen.

Sozialstaat generell wird nun, auch das eine andere Tonlage als bisweilen in der Vergangenheit, nicht als Sicherheitsnetz für die Durchgefallenen konnotiert (was im Umkehrschluss ja erneut abwertet und entmutigt), sondern als ein "soziales Recht", welchem die Bürgerinnen und Bürger "nicht als Bittsteller" gegenübertreten, sondern auf Augenhöhe.

Neue Balance

Scholz’ derzeitiges Umfragehoch ist sicherlich vom Eindruck des Endes der Ära Merkel während multipler Krisen und der Schwäche seiner Mitbewerberinnen und Mitbewerber beeinflusst. Doch eine Reduktion darauf unterschätzt, wie sehr die deutschen Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren an einer neuen programmatischen Balance gearbeitet haben, welche ihr jetziger Spitzenkandidat als Person glaubwürdig vertreten kann. Eine Garantie für einen Wahlsieg ist das natürlich keineswegs. Aber ein Zeichen, dass sozialdemokratische Neudefinitionen auch in immer komplexeren Gesellschaften möglich sind. (Felix Butzlaff, 10.9.2021)