Für immer mehr Menschen in Großbritannien ist das Glas halb leer. Die Nachschubprobleme zwingen Lokale, ihr Angebot zu minimieren.

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London – Der britischen Kneipenkette Wetherspoons geht das Bier aus, und der Hähnchenbrater KFC muss Filialen schließen, weil es beim Nachschub hapert. In vielen Supermärkten des Königreichs tun sich vor allem beim Gemüse und Frischobst Lücken in den Regalen auf, und das Einrichtungshaus Ikea klagt, dass bis zu zehn Prozent des Sortiments zurzeit nicht lieferbar sind.

Es ist eindeutig: Großbritannien leidet unter Lieferstau und Personalmangel. Der Doppelschlag von Brexit und Corona hat zur Abwanderung von hunderttausenden Arbeitskräften geführt. Weite Teile der britischen Volkswirtschaft sind von Nachschubproblemen betroffen. Wirtschaftsvertreter fordern Lockerungen für ausländische Arbeitnehmer, doch die Regierung mauert.

Erst Brexit, dann Corona

Zuerst war es der Brexit, der europäische Arbeitnehmer in Großbritannien dazu ermuntert hat, nach Hause zurückzukehren. Verstärkt wurde der Exodus durch Corona und die Lockdowns. Schätzungen zufolge verließen allein London 700.000 Ausländer. Kein Wunder also, dass die Zahl der offenen Stellen auf Rekordhöhe geschossen ist. Die Recruitment and Employment Confederation (REC) meldete in der letzten Augustwoche 1,66 Millionen offene Stellen – so viele wie noch nie zuvor.

Der größte Arbeitgeberverband, Confederation of British Industry (CBI), warnte am Wochenanfang, dass der Arbeitskräftemangel von Dauer zu sein droht: Ohne Intervention der Regierung, sagte CBI-Generaldirektor Tony Danker, könne es bis zu zwei Jahren dauern, bis alle benötigten Stellen besetzt seien.

100.000 LKW-Fahrer fehlen

Es ist nicht nur der Gesundheitsbereich, wo knapp 80.000 in der Pflege gesucht werden, oder der Hightech-Sektor, der 59.929 Stellen für Programmierer ausschreibt. Vor allem im Speditionswesen knirscht es. Es fehlen mehr als 100.000 Lkw-Fahrer. Schon vor der Pandemie hat es hier einen Personalmangel gegeben, aber jetzt wird die Situation immer kritischer. Die Industrie sucht händeringend nach Fahrern und offeriert großzügige Begrüßungsgelder und ein Jahreseinkommen von bis zu 50.000 Pfund. Den Personalmangel in der Speditionsbranche macht sich überall bemerkbar.

In manchen Gemeinden bleibt der Abfall liegen, weil die Müllabfuhr nicht genug Fahrer hat. Das Unternehmen Seqirus, das Grippeschutzimpfungen herstellt, warnte Kliniken wegen Lieferproblemen, dass sie ihre Impftermine verschieben müssten. Die Fastfoodkette McDonald’s konnte keine Milkshakes oder Wasserflaschen anbieten. Haribo kann nicht mehr auf die Insel liefern, weil man keine Lkw-Fahrer hat. "Unsere Zahlen zeigen", sagte Kate Nicholls von UK Hospitality, "dass 94 Prozent der Unternehmen im Gastgewerbe Lieferprobleme haben und zwei Drittel sagen, dass sie ihr Menü reduzieren müssen und erheblich an Umsatz verlieren."

Logistics UK und das British Retail Consortium (BRC) haben deshalb einen Brandbrief an die Regierung geschrieben, in dem sie Abhilfe forderten, weil der Personalmangel "zunehmend unhaltbaren Druck auf Einzelhändler und ihre Lieferketten ausübt".

Mehr Visa gefordert

Die BRC-Geschäftsführerin Helen Dickinson sagte: "Wir rufen die Regierung auf, schnellstens die Zahl der Führerscheintests für Fernfahrer zu erhöhen und vorläufige Arbeitsvisa für EU-Fahrer zu ermöglichen." Letzteres ist auch eine zentrale Forderung des Industrieverbands CBI, doch die Regierung will diesbezüglich nicht mit sich reden lassen. Immerhin hatte es zum Kern des Brexit-Projekts gehört, den Zuzug von Arbeitskräften aus der EU zu beschneiden und nicht zu erweitern.

Der Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng wies die Forderung nach Visaerleichterungen zurück und sagte den Industrieverbänden, man solle die Einstellung britischer Arbeiter priorisieren und besonders jene berücksichtigen die nach dem Auslaufen des Kurzarbeiterprogramms am Ende des Monats eine "unsichere Zukunft" befürchten. Doch das werde, wendete der Personalbeschaffungsverband REC ein, die Liefer- und Nachschubprobleme nicht beheben, da zuerst Arbeitslose für ihre neuen Jobs ausgebildet werden müssten. (Jochen Wittmann aus London, 10.9.2021)