Den Herzschlag spürt man durch den Plastikvorhang: Krankenschwester Adriana umarmt in einem brasilianischen Pflegeheim Bewohnerin Rosa – das Pressefoto des Jahres.

Foto: Mads Nissen/ Politiken/ Panos Pictures

Diese Treffen seien so unglaublich und emotional gewesen: "Die Leute haben geweint, einander geküsst und umarmt", sagt Mads Nissen heute, wenn er an den 5. August 2020 denkt. Der dänische Pressefotograf hat an diesem Tag ein brasilianisches Pflegeheim in São Paulo besucht, um zu dokumentieren, wonach sich so viele inmitten der Corona-Pandemie gesehnt hatten: eine simple Umarmung. Ein sogenannter "hug curtain", ein Plastikvorhang, ermöglichte diesen Kontakt nach Monaten der Abstinenz.

Ein Foto aus dieser Serie wurde zum weltbesten Pressefoto des Jahres gewählt und ist ab Freitag wie die prämierten Bilder aller Kategorien in der Wiener Galerie Westlicht zu sehen. Nissens World Press Photo of the Year zeigt die Pflegeheimbewohnerin Rosa Luzia Lunardi (85) und die Krankenschwester Adriana Silva da Costa Souza.

Das Foto hat Mads Nissen gemacht, es trägt aber die Handschrift von Jair Bolsonaros Politik: Der brasilianische Präsident und Rechtsextremist verglich Corona mit einer Grippe und ließ das Virus in seinem Land praktisch ungehindert wüten. Die Folgen sind bis heute verheerend. Mit beinahe 600.000 Todesfällen gehört Brasilien zu den am stärksten betroffenen Ländern. "Das hat mich verletzt und wütend gemacht", sagt Mads Nissen im Gespräch mit dem STANDARD.

Mads Nissen, Fotograf mit Haltung.
Foto: Morten Rode

Emotionale Beziehung zu Brasilien

Der Pressefotograf arbeitet für die dänische Zeitung Politiken, aber auch für internationale Zeitschriften und Magazine. Im Sommer 2020 ist er aufgebrochen, um das Leiden und Sterben in Brasilien zu verbildlichen. Nissen und Südamerika, das ist eine längere Geschichte. Er hat dort gelebt, seine Frau kommt aus Kolumbien. "Es war so schön, zurück zu sein, und gleichzeitig so hart", erzählt er. Etwa als er einen großen Friedhof mit Massengräbern in São Paulo besuchte. Sarg um Sarg wurde in der Erde versenkt, ein Corona-Toter nach dem anderen begraben.

Weitere Termine führten ihn zu zwei Pflegeheimen, in denen der "hug Curtain" zum Einsatz kam. Der erste ging beruflich schief. "Die Atmosphäre war so unglaublich emotional und berührend, aber ich konnte das nicht auf den Fotos festhalten", sagt Nissen: "Das Licht war schlecht, der Raum nicht gut."

Schmetterling, Herz oder Engel

Beim zweiten Versuch hat es geklappt, das habe er bereits vor dem Shooting gewusst: "Das Plastik im Hintergrund war schwarz, ich hatte gute Sicht, die Sonne war so schön stark." Den Rest übernehmen Intuition und Instinkt. Je nach dem, wie einander die Menschen umarmen, nimmt das Plastik eine andere Form an. Ob Schmetterling, Herz oder Engelsflügel: "Ich wollte die Emotion zeigen, die das Fehlen des Kontakts ausgelöst hat." Die Protagonisten seiner Fotos hätten sofort eingewilligt, so Nissen: "Das ist auch eine Frage der Mentalität. In Brasilien sind die Leute generell sehr offen, während in anderen Ländern jedes Foto ein Kampf ist." Adriana Silva da Costa Souza, die Krankenschwester auf dem Foto, habe etwas Wundervolles gesagt: "Wenn man jemanden umarmt, kann man trotz des Plastiks dazwischen den Herzschlag des Gegenübers spüren."

Über den Effekt seiner Fotos kann Nissen nur spekulieren. Klar ist: "Ich habe nicht die Hoffnung, dass ich die Politik und die Werte eines Mannes wie Bolsonaro ändern kann, aber ich sehe eine große Unzufriedenheit und einen Ärger in Brasilien über seine Politik und das Corona-Management."

Zeichen der Empathie

Mit seiner Arbeit möchte er sich selbst und der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten: "Ich glaube an die Macht der Bilder und die Macht der Information." Das Pressefoto des Jahres solle dennoch weniger ein Symbol für die verfehlte Corona-Politik eines Landes sein, als vielmehr als Zeichen der Empathie stehen. "Aufgabe von Journalismus ist es nicht nur zu kritisieren, sondern auch Hoffnung zu geben", sagt Nissen über seine vielfach preisgekrönten Pressefotos.

Der Däne reüssierte bereits im Jahr 2015 beim World Press Photo Award in der Kategorie weltbestes Pressefoto, als er ein schwules Paar in St. Petersburg fotografierte, um Homophobie in Russland zu dokumentieren. "Das Verbindende der beiden Siegerfotos ist, Liebe und Solidarität in harten Zeiten zu zeigen. Ob Covid oder Homophobie."

Nissen hat viel Leid wegen Covid gesehen, er fotografiert auch in Dänemarks Intensivstationen. Entsprechend gering ist sein Verständnis für Verharmloser. "Es geht nicht um dich, sondern um Solidarität. Mit den Geliebten, der Familie und den Nachbarn."

Negativbeispiel Schweden

Dass sein Land verhältnismäßig gut durch die Pandemie kommt, sei den Maßnahmen der Regierung unter Ministerpräsidentin Mette Frederiksen zu verdanken. "Wir waren besser vorbereitet als viele andere Länder." Schweden etwa habe einen hohen Preis für seine Corona-Politik bezahlt. Mit Menschenleben und in der Wirtschaft.

Die Auszeichnung beim World Press Photo Award mache ihn demütig. Sein Credo? Ran an die Arbeit und mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben, denn: "Die Welt braucht keinen weiteren Egoisten, der sich und seine Werke feiert." (Oliver Mark, 10.9.2021)