Seit rund zwei Wochen werden Baustellen rund um die geplante Stadtstraße besetzt. Den Beginn machte ein Camp in Hirschstetten, seit Montag gibt es eines an der U2-Station Hausfeldstraße.

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In den Schlafsack kuschelt sich um neun Uhr am Vormittag niemand mehr. Dafür scheint die Sonne an einem der wohl letzten schönen Spätsommertage zu intensiv auf das steinige Riesenareal, auf dem eigentlich schon Bagger, Walzen und Muldenkipper umherfahren sollten. Doch die Baufahrzeuge nahe der U2-Station Hausfeldstraße im Nordosten Wiens stehen still. Sie wurden am Montag von Umweltaktivistinnen und -aktivisten in Beschlag genommen und in der Zwischenzeit zu Bannerhalterungen umfunktioniert. "Bodenversiegelung stoppen", "No future on a dead planet" und "Mobilitätswende hier und jetzt" ist auf den Transparenten zu lesen.

Konnex zum Lobautunnel

Davor sitzen rund zehn Leute – die meisten im Alter zwischen 20 und 30 – und beraten bei einem Häferlkaffee, wie es mit ihrem Camp weitergehen könnte. Am Vortag hat eine nahegelegene Gärtnerei aus Solidarität einen vier Meter hohen Nussbaum vorbeigebracht, der nun eingepflanzt werden soll. Außerdem sollte sich jemand auf ins Hauptquartier nach Hirschstetten machen, um bei dem dortigen großen Plenum die eigenen Anliegen mit Vertretern der anderen Besetzungsstandorte zu koordinieren.

Die Baustelle an der Hausfeldstraße ist nämlich nur eines von mittlerweile vier Gebieten im Bezirk Donaustadt, die in den vergangenen zwei Wochen besetzt wurden. Der Grund: Von der Südosttangente (A23) bei Hirschstetten bis zur Seestadt Aspern soll in den kommenden fünf Jahren die sogenannte Stadtstraße errichtet werden – vierspurig und mit zwei Tunnel. Über Aspern soll sie weiter nach Osten an den S1-Schnellstraßenring um Wien angebunden werden. Doch fehlt bei diesem noch die entscheidende Passage durch die Lobau, ein ökologisch hochsensibles Gebiet im Nationalpark Donau-Auen, das untertunnelt werden soll.

Zwischen der Bau der Stadtstraße und dem Lobautunnel besteht ein verkehrssystematischer Zusammenhang

Ob das seit Jahrzehnten geplante Straßenprojekt tatsächlich so kommt, ist aktuell wieder fraglich, da Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) bei der Asfinag eine neuerliche Evaluierung der Lobau-Schnellstraße unter dem Gesichtspunkt Klimaschutz veranlasst hat. Zum Ärger des Koalitionspartners ÖVP und des roten Bürgermeisters in Wien.

Für die Stadtstraße ist aber die Stadt Wien selbst zuständig, und die hat nun mit Vorbereitungsarbeiten für den Bau begonnen. Die Klimaprotestierer wollen diesen erschweren, am besten verhindern. Clarissa und Sebastian, beide kommen aus dem nahegelegenen Essling, erklären ihre Motive mit dem Begriff des induzierten Verkehrs: "Mehr und größere Straßen werden im Endeffekt nur noch mehr Autoverkehr anziehen." Das sorge für steigende Treibhausgasemissionen: "Das widerspricht doch dem Ziel, die Erderwärmung auf maximal zwei Grad zu begrenzen!"

Bahntrassen statt Autoverkehr

Das Argument der roten Stadtführung, wonach die Stadtstraße den lärm- und staugeplagten Donaustädter Anrainern zugutekomme, hält Sebastian für vorgeschoben: "In Zukunft wird vor allem Transitverkehr über die Stadtstraße fahren." Auf den Hauptstraßen im Bezirk, etwa der Donaustraße B3, werde man durch den massiven Zuzug weiterhin Stoßstange an Stoßstange fahren.

Die Lösung könne nur im Ausbau der Bahn bestehen, ist man sich einig. Der öffentliche Verkehr müsse absolute Priorität haben. Was Clarissa außerdem sauer aufstößt: "An der Seestadt Aspern wurde früher immer angepriesen, dass man durch die U-Bahn-Anbindung kein Auto benötigt, um dort zu wohnen. Aber jetzt heißt es, man braucht rundherum unbedingt hochrangige Straßen." Wiens Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) hatte zuletzt vehement betont, dass die Verknüpfung der Tangente und der Schnellstraße S1 notwendig sei, um den Wohnbau und Betriebsansiedlungen im Stadtentwicklungsgebiet Aspern vorantreiben zu können.

Die Stadt Wien geht derzeit nicht gegen die Besetzungen vor, will aber den Bau der Stadtstraße definitiv vorantreiben
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Was können die Aktivisten an der Hausfeldstraße also gegen die zum Bau wild entschlossene Stadt ausrichten? Nicht viel, glaubt ein Bediensteter der Baufirma Porr, für den es an der Hausfeldstraße durch die Blockade derzeit wenig zu tun gibt. Zwar verzögere das Camp die Vorbereitung einer großen Aufstellfläche für Container der Bauleitung. Doch man lasse manche Arbeiter nun eben Tätigkeiten an anderen Projektorten vorziehen. Unweit des Camps stelle man einen Zaun zum Schutz von Zieseln auf, auch Gewässerschutzmaßnahmen stünden auf dem Programm. Das zeige, wie sehr man ohnehin auf die Natur achte.

Mit den jungen Leuten aus dem Camp gebe es aber keinerlei atmosphärische Probleme, hie und da habe man auch schon einen Kaffee gemeinsam getrunken. Er hoffe freilich, sagt der Bedienstete der Baufirma Porr, die brandneuen Baufahrzeuge irgendwann wieder heil zurückzubekommen.

Die Aktivistinnen und Aktivisten beraten zwischen Zelten und Baufahrzeugen über ihre weiteren Pläne
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Die Stadt Wien unternimmt derzeit nicht viel gegen die Besitzstörung auf ihrem Baugrund. Die Polizei schaut immer wieder einmal freundlich vorbei, hat aber keinen Auftrag gegen die Besetzer. Unschöne Bilder einer gewaltsamen Räumung will die Stadt wohl vermeiden, die Hoffnung der Verantwortlichen dürfte in einem langsamen Abflauen der Proteste in der anbrechenden nasskalten Jahreszeit liegen. Der Mann von der Baufirma sagt: "Bei einer Projektzeit von fünf Jahren kann man ein bis zwei Monate Verzögerung leicht wieder hereinholen."

Faktor Zeit als Problem

Die Beteiligten wissen selbst am besten, wie schwierig es wird, den Widerstand über längere Zeit an den zahlreichen Baustellen fortzuführen. Die Zahl der Engagierten sei noch zu gering, man brauche Verstärkung mit "stamina", also mit Durchhaltevermögen, sagt Clarissa. Gesprochen wird im Camp in der Regel Englisch, damit sich möglichst alle einbringen können. "It always starts small", gibt sich ein junger Rothaariger – aktionistischer Deckname Jonash – mit britischer Sprachfärbung abgeklärt-optimistisch. In der Nachbarschaft der Baustelle habe man in kurzer Zeit schon viele nette Unterstützer gefunden, mit einem Kuchen sei man auch schon belohnt worden. Bald werde man die Zelte wetterfest machen, kündigen die Campierer an. Lautet doch die Devise:"Wir bleiben, bis die Lobau bleibt und der Stopp der Stadtstraße kommt." (Theo Anders, 10.9. 2021)