"Ich hoffe, Sie haben ein bisserl Zeit mitgebracht, denn es gibt einiges zu besprechen", leitet Herbert Kickl die Pressekonferenz am Donnerstag ein. Der FPÖ-Chef spricht von "Verantwortungslosigkeit, Unehrlichkeit, Unbelehrbarkeit und Skrupellosigkeit" im Hinblick auf die türkis-grünen Verschärfungen für den nächsten Pandemie-Herbst – und von Betrug an der Bevölkerung. 52 Minuten lang arbeitet sich der FPÖ-Chef an der Bundesregierung ab und stellt dabei etliche Corona-Theorien auf. DER STANDARD hat sie einem Faktencheck unterzogen.

"Wir kriegen da viel erzählt": FPÖ-Chef Herbert Kickl lässt die Corona-Pandemie keine Ruhe.
Foto: APA/ Herbert Neubauer

Kickl: "Eine düstere Warnung aus Israel"

Ein zentrales Element in Kickls Erzählung nimmt Israel ein. Dort sei ersichtlich, was passiere, wenn der Pandemiekurs in Österreich weitergeführt werde wie bisher. Kickl zitiert aus einem Artikel des renommierten "Science"-Magazins aus dem August. Demnach dämpfe die Impfung die Delta-Variante, aber besiege sie nicht. Kickl meint, dass in Israel Impfdurchbrüche vor allem bei älteren Menschen verzeichnet wurden. Er bezieht sich aber nur auf die schwer erkrankten Patienten, nicht auf alle Covid-Patienten.

Dass unter dieser Patientengruppe die Älteren dominieren, ist logisch, weil sie viel öfter schwer an Covid-19 erkranken als Jüngere. Kickl sagt, dass von diesen Patienten "59 Prozent voll geimpft" waren. Das stimmt nicht ganz, denn in Israel geht man heute davon aus, dass von einem vollen Impfschutz nur dann die Rede sein kann, wenn die Impfung (oder Erkrankung) nicht länger als fünf Monate zurückliegt. Genau das war aber bei den von Kickl erwähnten Patienten zumeist der Fall, da diese Altersgruppe im Dezember und Jänner geimpft wurde. Es handelt sich also nicht um Impfdurchbrüche im engeren Sinn – sondern um eine Folge des nachlassenden Schutzes im Zeitverlauf.

Experte aus Israel entsetzt darüber, dass Kickl ihn so zitiert

Man könnte aber auch ganz einfach die von Kickl erwähnten Zahlen verwenden, um ihn zu widerlegen. Der FPÖ-Politiker deutet ja an, dass die Impfung nicht ausreichenden Schutz biete, schließlich waren in Israel 59 Prozent der schwer Erkrankten geimpft. Wie Kickl richtig sagt, war der überwiegende Teil von ihnen älter als 60 Jahre. Bedenkt man aber, dass in dieser Altersgruppe nur acht Prozent nicht geimpft sind, unter den schwer Erkrankten aber 41 Prozent ungeimpft sind, dann heißt das: Die Ungeimpften sind unter den schwer Kranken eindeutig überrepräsentiert.

Kickls Argumentation wäre deutlich schwächer, würde er aktuelle Zahlen heranziehen. Die von ihm zitierten Zahlen sind fast einen Monate alt. Damals, Mitte August, hatte Israel gerade erst begonnen, dritte Impfungen zu verabreichen. Heute sieht das Bild schon ganz anders aus. Aktuell sind mehr als 70 Prozent der Israelis über 60 Jahren dreifach geimpft, und das wirkt sich deutlich auf die Zahl der schwer Erkrankten in dieser Altersgruppe aus, die stetig zurückgeht. Wenn Kickl das unerwähnt lässt, dann tut er es entweder aus Unwissen – oder er unterschlägt es.

Ganz und gar nicht erfreut darüber, dass sein Name während der FPÖ-Pressekonferenz erwähnt wurde, ist übrigens der von Kickl fälschlicherweise als "Corona-Berater der israelischen Regierung" zitierte Uri Shalit. Der Forscher der Universität Technion in Haifa zeigt sich auf STANDARD-Anfrage "entsetzt" darüber, dass sein Name im Kontext einer Rede verwendet wird, die den Sinn einer Impfkampagne anzweifelt. Im Gegensatz zu dem, was Kickl andeutet, würden die Impfungen sogar "sehr gut funktionieren", und "wir sehen das ganz klar hier in Israel".

Kickl: Mehr Geimpfte als Ungeimpfte infiziert

Kickl nennt in dem Zusammenhang auch Zahlen für Österreich. Mit Berufung auf die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) meint er, unter den Covid-Fällen der über 60-Jährigen in den letzten sieben Tagen seien 52 Prozent vollimmunisiert gewesen. Bei der Ages-Pressestelle hat man derartige Zahlen nicht parat. Sie zu betrachten wäre aber auch sinnlos, sagt ein Sprecher, die Darstellung wäre "eigentlich falsch". Denn: Wenn in einer Altersgruppe viele Menschen geimpft sind, ist es nur logisch, dass unter den Corona-Fällen der Anteil der geimpften dann größer ist. "Wären 100 Prozent der Leute geimpft, dann wären 100 Prozent der Corona-Fälle Impfdurchbrüche", heißt es von der Ages. Fakt ist: Von insgesamt 252.976 laborbestätigten Corona-Fällen bei über Zwölfjährigen waren 6.793 vollständig geimpft (Zeitraum 1. Februar 2021 bis 7. September 2021). Das heißt, in 4,05 Prozent der Fälle kam es zu einem Impfdurchbruch. 0,13 Prozent dieser Fälle wurden im Krankenhaus aufgenommen.

Kickl spricht auch über die heimischen Intensivstationen. "Wir kriegen da viel erzählt", sagt der blaue Parteichef. "Viele derer, die die Impfstrategie schönreden, sagen, in den Spitälern ist die überwältigende Zahl derer, die da drinnen liegen, das sind lauter Leute, die ungeimpft sind." Er zitiert ein Interview mit dem Gesundheitsökonomen Gerhard Pöttler aus einem hart rechten Medium, um das Gegenteil zu beweisen. Pöttler beruft sich darin auf "vertrauliche Informationen", wonach in Graz auf der Intensivstation hauptsächlich Geimpfte versorgt würden. Ebenso im AKH in Wien sowie in den Universitätskliniken in Linz und Salzburg und peripheren Spitälern in Wien. Seine Informationen sind schlichtweg falsch.

Laut Gesundheitsministerium waren per Stichtag 7. September bundesweit rund 88 Prozent der Corona-Intensivpatienten ungeimpft oder nicht vollständig geimpft.

Im AKH Wien waren am Donnerstag alle Intensivbetten durch nicht oder nicht vollständig geimpfte Patienten belegt. In Linz waren es Stand Freitag laut einer Sprecherin "hundert Prozent Ungeimpfte", im LKH Graz 75 Prozent, und in Salzburg war von zehn Corona-Intensivpatienten nur eine Person geimpft, ein 78-jähriger Mann mit schweren Vorerkrankungen.

Auch eine Reduktion der Intensivbetten um mehr als 300 im vergangenen Jahr, wie Pöttler sie anführt, ist dem Gesundheitsministerium nicht bekannt. "In den einzelnen Bundesländern wurde je nach Covid-Belag in den Krankenanstalten der jeweilige Krisenstufenplan angepasst und zum Teil sogar Intensivkapazitäten inklusive notwendiger Geräteausstattung und Personal ausgeweitet, um weiterhin eine bestmögliche Versorgung aller Patientinnen und Patienten gewährleisten zu können", heißt es aus dem Ministerium

Kickl: Kriminalisierte Impfverweigerer

Nicht nur die Zahlen, auch das Wording der Regierung gehen Kickl gegen den Strich. Man argumentiere mit Kampfbegriffen, um ungeimpfte Personen zu kriminalisieren, meint er. Der Begriff der Impfverweigerer, so sagt er, sei nahe am Begriff der Staatsverweigerer, damit sei man mitten in einer Kriminalisierungsstrategie. Tatsächlich, so zeigt eine parlamentarische Anfragebeantwortung durch Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) aus dem Dezember 2020, gibt es zumindest Überschneidungen zwischen den beiden Szenen.

Man habe festgestellt, dass Personen aus der Staatsverweigerer-Szene verstärkt an Corona-Demos teilnehmen und dort Skeptiker rekrutieren, heißt es da. Der Anteil an Staatsverweigerern unter Impfgegnern dürfte aber relativ klein sein: Dem Innenministerium waren zum Zeitpunkt der Beantwortung 3.693 Personen namentlich bekannt, die der Szene der Staatsverweigerer zugerechnet werden können. Nachdem momentan etwa 62 Prozent zumindest einen Impfstich bekommen hat, haben sich aber Millionen Menschen noch nicht impfen lassen – aus welchen Gründen auch immer.

Übrigens: Eine Archivrecherche zeigt, dass zumindest in Texten, die die Nachrichtenagentur APA veröffentlicht hatte, weder Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) noch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) seit Vorjahresbeginn von Menschen, die sich nicht impfen lassen oder lassen wollen, als "Impfverweigerern" gesprochen haben. Stattdessen fällt vor allem in den letzten Wochen ein besonders sanfter sprachlicher Umgang mit dieser Personengruppe auf: Die Regierung spricht stets davon, diese zu schützen, anstatt sie zu bestrafen.

Kickl: "Hineinmanipulieren" in den dritten Stich

Kickl zitiert außerdem erst den Bundeskanzler, der zur dritten Impfung aufruft, und dann ein Formular, das Menschen unterschreiben müssen, die sich aktuell die dritte Impfung abholen. Darin heißt es: "Die Anwendung von Covid-19-Impfstoffen als dritte Dosis ist derzeit nicht zugelassen. Die Datenlage ist noch begrenzt, und über Art und Häufigkeit von Nebenwirkungen ist wenig bekannt." Kickl sieht auch darin einen Betrug der Regierung.

Tatsächlich ist die Studienlage zur dritten Impfung schlecht. Aus den Daten, die es gibt, leitete das Nationale Impfgremium (NIG) dennoch einiges ab. In dessen aktuellen Anwendungsempfehlungen heißt es, man könne daraus schließen, dass "bei Personen höheren Alters und bei Personen mit bestimmten Vorerkrankungen/Immunsuppression die Schutzwirkung gegen die Delta-Variante nicht in allen Fällen neun Monate lang in vollem Ausmaß gegeben ist". Gleichzeitig würden Daten zeigen, dass Drittimpfungen Durchbrüche und Krankenhausaufenthalte reduzieren könnten. Daher empfiehlt das Gremium die Auffrischungsimpfungen auch ohne Zulassung – momentan eben für bestimmte Altersgruppen und in bestimmten Zeiträumen.

Dass es dafür keine Zulassung gibt, wird vom NIG auch nicht verheimlicht. In dem Dokument, das öffentlich einsehbar ist, heißt es: "Da es sich bei allen hier empfohlenen Impfungen um Off-Label-Anwendungen handelt, ist es notwendig, explizit darüber aufzuklären, dass derzeit keine Zulassung für diese Anwendung vorliegt, die Datenlage derzeit noch begrenzt ist und noch nichts über die Art und Häufigkeit von Nebenwirkungen bekannt ist. Es wird empfohlen, diese Aufklärung schriftlich zu dokumentieren." Denn: Wenn bei einer Off-Label-Verwendung Komplikationen auftreten, greift das Impfschadengesetz nicht – es legt fest, dass ein Bürger oder eine Bürgerin eine Entschädigung bekommt, wenn es zu Komplikationen durch eine vom Staat empfohlene Impfung kommt –, auch der Hersteller haftet nicht.

Diese Vorgangsweise ist prinzipiell nicht ungewöhnlich. Auch eine Kreuzimpfung, also etwa ein erster Stich mit Astra Zeneca und ein zweiter mit Biontech, ist eine Off-Label-Verwendung, ebenso die Impfung von Kindern unter zwölf Jahren. Beim dritten Stich wird, etwa von den Herstellern, offensichtlich aber auch von der Regierung, erwartet, dass dieser bald von der EMA zugelassen wird. Das passiert dann, wenn die Hersteller alle dafür notwenigen Daten bereitstellen und die EMA ihr Okay gibt. (Jan Michael Marchart, Gabriele Scherndl, Maria Sterkl, 11.9.2021)