Die Anschläge vor 20 Jahren haben die Welt verändert.

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Mindestens zwei US-Wahlkämpfe haben sie mitbestimmt, US-Präsident Joe Biden meint sie nun mit dem Abzug aus Afghanistan beendet zu haben: die "Forever Wars", die "ewigen Kriege", die die USA seit dem 11. September 2001 in der Welt führen. The Long War Journal heißt eine Veröffentlichung des konservativen US-Thinktanks Foundation for the Defense of Democracies. Die Bezeichnung trifft vielleicht noch besser, was die Anschlagsserie von 9/11, die sich nun zum 20. Mal jährt, in der Welt angerichtet hat: das Gefühl eines dauernden Konfliktzustands, der sich bei weitem nicht in den militärischen Einsätzen am Hindukusch und im Irak erschöpft, sondern Gesellschaften noch immer durchzieht – und mit dem liberale Demokratien nicht umzugehen wissen.

Keine moralische Basis mehr

Jener Ort, der die Probleme vielleicht am besten verkörpert, ist seit Jänner 2002 in Betrieb. Das Gefangenenlager auf der US-Basis Guantánamo Bay in Kuba, von der Regierung George W. Bushs als beinahe rechtsfreier Raum erdacht, steht wie wenige andere für den Spagat zwischen Rechtsstaat und ruchloser militärischer Terrorverfolgung. Die Übung, von Beginn an zum Scheitern verurteilt, kostete die USA schnell das, worauf sie als Opfer der Terrorangriffe eigentlich jedes Recht gehabt hätten: die moralische Basis für vieles, was sie taten. Trotz aller Schließungsversprechen und Bemühungen, die es seit mehr als zehn Jahren gibt, sind immer noch 39 Menschen dort eingesperrt. Wie ihr Schicksal außerhalb der Gefängnisbaracken aussehen soll? Das ist unklar.

Die seltene obsessiv-patriotische Einigkeit, die die USA unmittelbar nach den Anschlägen erlebten, hat sich längst in ihr Gegenteil verkehrt. Polarisierung bestimmt das politische Parkett, und auch sie ist zumindest in Teilen auf die Folgen des Anschlags zurückzuführen. Freilich, für das Erstarken des Populismus in den USA gibt es viele Gründe und auch vor 9/11 unzählige unrühmliche Vorbilder. Und auch die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien begann nicht an diesem Tag. Dass Politiker wie Donald Trump aber Islamfeindlichkeit als tragende Stütze ihres Programmes nutzen und so den Sieg davontragen – das wäre vor den Anschlägen nur schwer möglich gewesen. Auch "Daham statt Islam" als angebliches Gegensatzpaar hätte in den späten 1990er-Jahren wohl eher für Erstaunen als für Stimmengewinne gesorgt.

Eine neue "Sicherheit"

Ausreichend war der Konsens aber dies- und jenseits des Atlantiks für einen neuen Fokus auf Sicherheit – und für eine neue Definition dessen, was damit gemeint ist. Der "US Patriot Act" in den USA schuf die Basis für umfangreiche Einschränkungen der Bürgerrechte. Die Enthüllungen des einstigen US-Geheimdienstzuarbeiters Edward Snowden machten 2013 deutlich, wie sehr Washington vor allem auch international bereit war, fest erscheinende Grenzen zu überschreiten. Macht Europa es anders? Berichte über die Zusammenarbeit europäischer Dienste mit der amerikanischen NSA lassen zumindest deutliche Zweifel an dieser Annahme aufkommen.

Am 15. September 2001 betrat der Boeing-Mechaniker Frank Sliva Roque eine Tankstelle in Mesa, Arizona und erschoss deren Betreiber Balbir Singh Sodhi – einen Sikh, den er wegen seines Turbans fälschlich für einen Muslim gehalten hatte. Es war der erste von mehreren "Vergeltungsangriffen" in direkter Folge der Anschläge in den USA. Auch wenn derartige Vorfälle vergleichsweise selten blieben: Islamfeindlichkeit wurde in Amerika nach 9/11 vom zweitseltensten zum zweithäufigsten religiösen Vorurteil. Das ergab eine Studie des Justizministeriums. Hassverbrechen mit diesem Hintergrund verzehnfachten sich in einem Jahr. Muslime erlebten im Alltag das Gefühl, stets verdächtigt zu werden.

Bleibende Folgen

Ein Gefühl, das, neben vielen anderen Faktoren, islamistischen Terrorgruppen bei der Rekrutierung neuer Mitglieder half. Zu diesen Faktoren zählen auch das politische Chaos und das Trauma, das die auf 9/11 folgenden Kriege in Nahost hinterlassen haben. Aber: nicht nur dort. Mehr als drei Millionen junge US-Amerikanerinnen und -Amerikaner waren seither im Antiterroreinsatz der Armee, oft haben sie psychische Schäden davongetragen.

Der "lange Krieg": Er endet gewiss nicht mit dem US-Abzug aus Afghanistan. (Manuel Escher, 10.9.2021)